Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

Gedenkveranstaltung anlässlich 80 Jahre Kriegsende in Europa

Botschafter Alexander Graf Lambsdorff bei der Gedenkveranstaltung anlässlich 80 Jahre Kriegsende in Europa

Botschafter Alexander Graf Lambsdorff bei der Gedenkveranstaltung anlässlich 80 Jahre Kriegsende in Europa © Deutsche Botschaft Moskau / Ekaterina Tsaplina

22.05.2025 - Rede

Die Botschaften Deutschlands und Frankreichs sowie die EU-Delegation gedachten gestern bei einem Konzert des 80.Jahrestags des Endes des 2. Weltkriegs. Botschafter Graf Lambsdorff dankte dabei den Soldaten der Sowjetunion und denen der Alliierten für ihren erfolgreichen Kampf gegen den Naziterror.

Ansprache von Botschafter Alexander Graf Lambsdorff bei der Gedenkveranstaltung anlässlich 80 Jahre Kriegsende in Europa

Sehr geehrter Herr Botschafter, lieber Nicolas, liebe Ivana,
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
verehrte Gäste,

Zunächst einmal, lieber Nicolas und liebe Ivana, möchte ich Ihnen sagen, wie dankbar ich bin, heute hier neben Ihnen zu stehen. Es ist eine Botschaft an sich, dass wir heute hier zusammen sind, geeint als Europäer. Niemand konnte das wissen und nur sehr, sehr wenige hätten es im Mai 1945 für möglich gehalten, als unser Kontinent aus dem schrecklichen, von Deutschland begonnenen Krieg hervorging.

Mein Land, meine Damen und Herren, hatte sich in den Jahren vor dem Krieg in eine totale Diktatur verwandelt. Die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie nach 1933, die Unterwerfung der unabhängigen Justiz unter den Willen des Regimes, die Ausschaltung jeglicher Meinungsfreiheit, die Schaffung einer allmächtigen Geheimpolizei und willkürliche harte Strafen für Andersdenkende führten zu einer allumfassenden Unterdrückung.

Das führte dazu, dass die Deutschen die Nazi-Regierung erst nicht loswerden wollten und dann nicht mehr loswerden konnten. Abgesehen von einigen wenigen mutigen Menschen, die von innen heraus Widerstand leisteten, duldete, ertrug oder unterstützte die Mehrheit der deutschen Bevölkerung das Geschehen. Das Regime wurde also nicht von innen heraus gestürzt. Die Befreiung kam von außen.

Deshalb sind wir heute den alliierten Streitkräften unendlich dankbar, dass sie das Naziregime besiegt haben, und zwar unter enormen Kosten für ihre eigenen Nationen. Unser herzlicher Dank gilt den sowjetischen, amerikanischen, britischen und französischen Soldaten - und den Soldaten aller anderen Nationen, die an ihrer Seite gegen den Naziterror gekämpft haben.

Am Ende des 2. Weltkriegs waren mehr als 60 Millionen Menschen in Europa tot, sechs Millionen Juden wurden in der Shoah ermordet, unzählige andere kamen in den Lagern um, Millionen waren obdachlos, verwaist, gebrochen.

Die Tatsache, dass wir diesen Jahrestag hier in Moskau begehen, hat eine besondere Bedeutung, denn die Sowjetunion trug während des Krieges eine immense Last. Mindestens 13 Millionen Soldaten - und ebenso viele Zivilisten - verloren ihr Leben. Städte wie Leningrad, Stalingrad und Rschew wurden zu bleibenden Symbolen für Durchhaltevermögen, Widerstand und Opferbereitschaft. Sowjetische Soldaten haben Auschwitz befreit. Diese historische Leistung ist nicht vergessen und wird es auch nie sein.

Russen, Ukrainer und Weißrussen trugen die Hauptlast der Kämpfe, ihre Bevölkerungen litten unter der deutschen Besatzung. Aber auch andere Völker der UdSSR kämpften, litten und starben. Ich bin gerade aus Taschkent zurückgekehrt und habe meinen Aufenthalt dort genutzt, um das Kriegsdenkmal zu besuchen. Mehr als eine Million Usbeken, damalige Sowjetbürger, kamen auf den Schlachtfeldern eines Krieges ums Leben, der sehr weit von ihrer Heimat entfernt stattfand.

Meine Damen und Herren!

in einer sehr persönlichen Anmerkung möchte ich Ihnen meine Überzeugung mitteilen, dass ich es als eine Beleidigung des Andenkens dieser tapferen Soldaten und ihres Opfers ansehe, wenn ihr Vermächtnis als Rechtfertigung für einen Angriffskrieg gegen die Ukraine missbraucht wird. Ich bin überzeugt, dass diejenigen, die ihr Leben gaben, um die Tyrannei zu besiegen, dies nicht taten, um den Weg für neue Kämpfe und neues Leid zu bereiten. Ihr Andenken zu ehren bedeutet, sich für den Frieden einzusetzen, anstatt Krieg in Europa zu führen.

Meine Damen und Herren!

einige unserer russischen Gesprächspartner fragen sich manchmal, warum der D-Day, also die Landung der westlichen Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, für uns so wichtig ist. Von offizieller Seite wird sie oft als „zu wenig zu spät“ verspottet. Sie haben Recht, wenn sie darauf hinweisen, dass mit Ausnahme von Polen kein anderes Land so sehr gelitten hat wie die Sowjetunion. Aber die Geschichte meines eigenen Landes, Polens, der baltischen Republiken, der Tschechoslowakei und aller anderen Nationen Mitteleuropas gibt die Antwort auf diese Frage. „Befreiung“ bedeutete in jedem Land etwas anderes. Diejenigen, die von den Nationen des Westens befreit wurden, wurden zu freien Ländern, Demokratien und Marktwirtschaften. Diejenigen, die von der Roten Armee befreit wurden, wurden anschließend von Stalin unterdrückt und unter das Joch kommunistischer Marionettenregime gezwungen, die ihre Anweisungen direkt aus Moskau erhielten - für weitere 45 Jahre. Das ist auch in meinem Land der Fall. Ostdeutschland war eine Diktatur, und die Menschen, die dort lebten, wussten genau, dass es eine war. Deshalb brach 1953 in Ost-Berlin ein Aufstand gegen das kommunistische Regime aus. Er wurde ebenso brutal niedergeschlagen wie die Aufstände in Ungarn 1956 oder in der Tschechoslowakei 1968. Für all diese Länder, wie auch für Ostdeutschland, kam die wahre Freiheit erst mit dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Ende des Kommunismus vor 35 Jahren.

Meine Damen und Herren!

wenn wir auf 80 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurückblicken, blicken wir auch auf 80 Jahre deutsche Geschichtsbewältigung zurück.

Dieser Prozess ist weder geradlinig noch ist er einfach. In Westdeutschland wurde die schmerzhafte Vergangenheit oft verdrängt, während das Land wieder aufgebaut wurde. Nur wenige Menschen setzten sich mit der Vergangenheit auseinander. Die meisten betrachteten den 8. Mai immer noch als eine Niederlage und nichts anderes. In Ostdeutschland beanspruchte der Staat als selbsternanntes „antifaschistisches“ Regime moralische Überlegenheit, während er jede ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und auch mit anderen Formen der Unfreiheit vermied. Lange Zeit herrschte in beiden Teilen des geteilten Deutschlands Schweigen und Leugnen in unterschiedlichem Ausmaß.

Deshalb war die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 ein so wichtiger Wendepunkt. In seiner Rede vor dem Bundestag bezeichnete er den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ und ermutigte die Deutschen, das Kriegsende nicht nur als Niederlage, als Zusammenbruch, als nationale Katastrophe zu betrachten. Stattdessen stellte er fest, was wir heute für selbstverständlich halten: 1945 wurden die Deutschen durch eine militärische Niederlage von der faschistischen Gewaltherrschaft befreit. In seiner wegweisenden Rede bekräftigte er die dauerhafte Verpflichtung Deutschlands, sich mit den Verbrechen des Naziregimes auseinanderzusetzen - die Erinnerung an die Vergangenheit als moralische Verpflichtung wach zu halten und dafür zu sorgen, dass die Lehren aus der Vergangenheit weiterhin unser Handeln leiten. Diese Aufgabe, die Wahrheit zu bewahren, wird heute leider immer wichtiger, da die Lehren aus der Vergangenheit oft mutwillig verfälscht werden.

Liebe Freunde,

am 8. Mai 1945 begann für unser Land der Weg zu Freiheit und Demokratie. Wir sind zutiefst dankbar für das Vertrauen, das uns so viele Nationen nach dem Krieg entgegengebracht haben: für die Aussöhnung mit unseren Nachbarn Frankreich und Polen, um nur zwei zu nennen, für die außergewöhnlichen Beziehungen, die wir mit dem Staat Israel unterhalten, und für die vereinte Europäische Union, die aus der Asche des Krieges auferstanden ist – eine Europäische Union, die nicht auf Teilung, Feindseligkeit und Konflikten beruht, sondern auf der Achtung der Menschenrechte, einem unerschütterlichen Engagement für die friedliche Beilegung von Konflikten und einer nie dagewesenen Tiefe der Integration. Robert Schuman, Paul-Henri Spaak, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer wurden im 19. Jahrhundert geboren, erlebten die Schrecken des 20. Jahrhunderts und legten so mit großer Entschlossenheit den Grundstein für das vereinte Europa des 21. Jahrhunderts.

Meine Damen und Herren!

Gedenkveranstaltung anlässlich 80 Jahre Kriegsende in Europa
Gedenkveranstaltung anlässlich 80 Jahre Kriegsende in Europa © Deutsche Botschaft Moskau / Ekaterina Tsaplina

ich lade Sie nun ein, unser erstes Musikstück des Abends zu hören, die Sonate Nr. 31 in As-Dur von Ludwig van Beethoven. Die Wahl Beethovens für diesen Anlass ist kein Zufall, und sie ist auch nicht ohne Komplexität. Während der Nazizeit wurde Beethovens Musik vom Regime vereinnahmt. Sein Bild wurde zum Mythos des deutschen Genies und wurde genutzt, um Ideale von nationaler Stärke und kultureller Überlegenheit zu vermitteln. Das war Propaganda in ihrer schlimmsten Form.

In Wirklichkeit war Beethoven, wie wir alle wissen, ein Humanist, der sich für universelle Werte einsetzte. Seine Ode an die Freude, die wir später hören werden, zelebriert die Brüderlichkeit und die gemeinsame Menschlichkeit. Seine Musik geht über den Nationalismus hinaus, sie spricht von Freiheit und der Widerstandskraft des menschlichen Geistes. Indem wir Beethoven heute aufführen, bekräftigen wir seine Musik als ein Symbol der europäischen Kultur in ihrer besten Form: integrativ, universell und zutiefst menschlich.

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.

nach oben