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Ansprache des Deutschen Botschafters Alexander Graf Lambsdorff zum Empfang am 8. November 2024

Alexander Graf Lambsdorff

Botschafter Alexander Graf Lambsdorff, © picture alliance/dpa | Ulf Mauder

08.11.2024 - Rede

Herzlich willkommen, Exzellenzen, meine Damen und Herren, liebe Landsleute! Willkommen am Vorabend des 9. November – 35 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.

Vielleicht waren Sie etwas überrascht, als Sie unsere Einladung erhalten haben. Nein, der deutsche Nationalfeiertag hat sich nicht geändert.

Wir feiern jedes Jahr in Freude und Dankbarkeit am 3. Oktober den Tag der Deutschen Einheit gerade hier in Moskau, in der Stadt, in der der 2+4-Vertrag unterzeichnet wurde. Mit diesem Vertrag hat Deutschland 1990 seine volle, umfassende nationale Souveränität endgültig wiedererlangt. Er wurde, ich sage es gerne noch einmal, hier in Moskau unterschrieben, und die Wiedervereinigung feiern wir daher auch ganz besonders gerne hier mit unseren Landsleuten, unseren russischen Freunden und vielen gern gesehenen Gästen.

Aber, meine Damen und Herren, es gibt Zeiten, in denen es gut ist, sich besonders an jenen 9. November vor 35 Jahren zu erinnern. Zeiten, in denen man gerne auf die Zuversicht zurückgreift, die in dieser Erinnerung steckt.

35-летняя годовщина падения Берлинской стены

Diese Erinnerung ist immer vorhanden – und sie gehört nicht uns Deutschen allein.

Der Fall der Berliner Mauer ist eines der stärksten Wahrzeichen dafür, dass Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können. Dass es gelingen kann, selbst solche Verhältnisse zu verändern, die buchstäblich in Beton gegossen zu sein schienen. Dass es gelingen kann, der Geschichte einen anderen Lauf zu geben.

Das haben die Menschen in der DDR getan, die damals zu Hunderttausenden ihren Willen zum Ausdruck gebracht haben, den Willen zur Freiheit. Das haben die Menschen in so vielen Ländern Mitteleuropas und Osteuropas schon in den Jahren davor getan.

Ich erinnere an die Charta 77, die Solidarnosc, die baltischen Befreiungsbewegungen. Ich erinnere an die Dissidenten in der Sowjetunion. Sie haben vorbereitet, was am 9. November bei uns in Deutschland geschah, weil sie jahrelang und in scheinbar aussichtsloser Lage gegen die Diktatur der KPdSU aufgestanden sind. Diese Menschen haben nichts beansprucht, was anderen gehörte. Nur ihre eigene Freiheit und die ihrer Nationen. Am 9. November herrschte deshalb auch Freude und Dankbarkeit auf beiden Seiten der Mauer. Und diese Freude beruhte nicht auf Naivität.

Der polnische Publizist Adam Michnik beispielsweise ahnte durchaus, dass noch manche Frage zu lösen sein würde. „Was die Ereignisse dieser Nacht politisch bedeuten“ so schrieb er „das können wir noch lange nicht ermessen. Aber eines ist sicher: im ewigen Kampf des Menschen mit dem Stacheldraht – hat heute der Mensch gesiegt und der Stacheldraht verloren“.

Rostropowitsch-Denkmal in Moskau
Rostropowitsch-Denkmal in Moskau © Deutsche Botschaft Moskau

Msistislaw Rostropowitsch, der große russische Cellist, sagte es auf andere Weise. Er kam nach Berlin, er setzte sich hin vor diese Mauer – und spielte die Ouvertüren von Johann Sebastian Bach. Das Denkmal dieses wunderbaren, spontanen Konzerts steht hier in Moskau im Arbat, am Skwer Mstislaw Rostropowitscha. Er spielte für die Menschen und hieß sie willkommen im neuen, freien und friedlichen Europa, das damals als Möglichkeit sichtbar wurde.

Dieses neue Europa ist auch das demokratische Europa.

Nun ist Demokratie fordernd, sie ist in manchen Entwicklungen unvorhersehbar. Sie alle haben die Nachrichten verfolgt und wissen bereits, dass die Regierungskoalition in Berlin vorgestern an ihr Ende gekommen ist. Aber der Bundespräsident hat es gestern schon klar gesagt: Das Ende einer Koalition ist nicht das Ende der Welt. Unsere Verfassung hat für eine solche Situation Vorsorge getroffen.

Wir sind zuversichtlich, dass die Entscheidungen in Berlin so verlässlich und korrekt getroffen werden, wie unser Grundgesetz es vorsieht. Und die Deutschen stellen sich auf neue Wahlen Anfang 2025 ein. Ich kann Ihnen versichern, dass die kommende Bundestagswahl spannender wird als manche Wahl des Jahres 2024.

Demokratische Wahlen sind im neuen Europa ein normaler Vorgang, auch wenn der Zeitpunkt vielleicht überraschend ist.

35-летний юбилей мирной революции

Meine Damen und Herren,

heute wissen wir aber auch, dass dieses neue Europa noch längst nicht für alle errungen, noch nicht gesichert ist. Wir sind zurückgerutscht. Wir verlieren Zeit und vor allem entsetzlich viele Menschenleben.

Es fällt heute Vielen schwer zu sehen, wie wir wieder auf den Weg zurückkommen können, den uns die Erinnerung an das Jahr 1989 weist. Viele haben den Eindruck, vor einer Mauer zu stehen, auf der in großen Buchstaben das Wort steht: Unmöglich.

Aber wir wissen, dass in unseren menschlichen Angelegenheiten – und zu denen zählt die Politik - oft viel mehr möglich ist, als es scheint. Dafür steht der 9. November wie kein zweites Datum der jüngeren Geschichte.

Der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung weisen in ihrer Bedeutung über Deutschland hinaus. Sie erinnern uns an eine Situation, in der die Sowjetunion und der Westen gemeinsam in der Lage waren, einen gefährlichen Konflikt zu begraben und die Grundlagen für eine bessere Zukunft zu bauen.

Damals ist eine Friedensordnung in Europa entstanden, um die andere Weltregionen uns beneidet haben. Sie beruht auf einer ganz einfachen Idee: Alle Staaten sollen Sicherheit genießen – unabhängig davon, wie groß sie sind, wie ihre Wirtschaft aussieht, wie ihre Streitkräfte, unabhängig davon, ob sie sich für ein Bündnis entscheiden oder nicht.

Die deutsche Außenpolitik hat hart dafür gearbeitet, diese Ordnung zu erhalten. Zu dieser Ordnung wollen wir, müssen wir zurückkommen. Der Schlüssel zum Frieden liegt einmal mehr hier in Moskau: Russland muss den Krieg in der Ukraine beenden.

Das ist notwendig – im Interesse der Humanität, im Interesse des Friedens in Europa, im Interesse der ganzen Staatengemeinschaft.

35-летие падения Берлинской стены

Und es ist möglich, ich bin fest davon überzeugt – eben, weil der Frieden auch im Interesse Russlands liegt und von so vielen Menschen hier ersehnt wird.

Meine Damen und Herren, liebe Gäste, lassen Sie uns auf diese Menschen die Gläser erheben und auf ihre Sehnsucht nach Frieden, lassen Sie uns den 9. November feiern, lassen Sie uns dabei an all das denken, was nicht nur notwendig ist – sondern auch möglich! Auf Freiheit - und auf Frieden!

Herzlichen Dank!

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