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Einführendes Grußwort von Botschafter von Geyr zum Moskauer Gespräch „Schwer heilende Wunden und neue Horizonte - 75 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges“
Online-Ausgabe der „Moskauer Gespräche“ am 13.05.2020, © Deutsche Botschaft Moskau
Sehr geehrte Frau Hilt,
Herr Hoffmann,
Frau Prof. Dr. Scherbakowa,
Herr Prof. Dr. Pavel Polian
Frau Nemkowa
Frau Dr. Janeke
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
haben Sie herzlichen Dank für die Einladung zu einer Premiere: der ersten online-Ausgabe der „Moskauer Gespräche“. Der Titel unseres heutigen Moskauer Gesprächs ist sehr treffend gewählt: „Schwer heilende Wunden & neue Horizonte - 75 Jahre Ende des Zweiten Weltkrieges“. Denn: Diese Erinnerung ist und bleibt schmerzhaft. Und: Beides ist wichtig: der Blick zurück und der Blick nach vorne, auf neue Horizonte.
Natürlich bleibt die Erinnerung an diesen Krieg ein wichtiges Element für die künftige Gestaltung internationaler Beziehungen – auch für das deutsch-russische Verhältnis.
Aber Ihre Grundfrage für die heutige Veranstaltung geht tiefer, ist anspruchsvoll: die Frage nach den jungen Generationen und nach „gemeinsamer Zukunftsverantwortung“. Ich will versuchen, zu Ihrer Diskussion vier Gedanken beizutragen, die vor allem unsere jungen Generationen im Blick haben:
1. Erinnerung
Wir Deutsche haben nach dem Krieg bitter lernen müssen mit dem dunkelsten Kapitel einer Geschichte umzugehen, das eine Nation haben kann.
Eine der essenziellen Lehren aus unserer Vergangenheit ist, dass wir zu unserer historischen Verantwortung stehen, für den Ausbruch dieses schrecklichsten aller Kriege und für den Zivilisationsbruch des Holocaust.
Und ebenso, dass wir die unzähligen Opfer ehren, die viele erbracht haben, um die Nazi-Diktatur zu besiegen, so auch maßgeblich die Völker der ehemaligen Sowjetunion.
Zu den Lehren gehört auch, dass wir die Erinnerung aufrichtig und ungeschminkt weitertragen, weitergeben an die jungen Generationen. Damit sie wissen was war und was nie wieder so sein darf.
Und wir haben gelernt: Ein ehrlicher Umgang mit der Geschichte, die Täter und Opfer nicht verwechselt, ist kostbar. Er ist auch bestimmend für die Glaubwürdigkeit eines Landes – nach innen und nach außen.
Ein Historiker des Ersten Weltkriegs hat Anfangs der 90er Jahre einmal gesagt, er habe gedacht, er gehöre einer friedlichen Zunft an – bis am Beginn des Jugoslawienkriegs viele versucht haben, Geschichte zu instrumentalisieren, Geschichte quasi zu einer Waffe zu machen.
Wir müssen auch heute auf das kostbare Gut einer ungeschminkten Geschichtsbetrachtung gut achtgeben.
Auch darin muss sich „gemeinsame Zukunftsverantwortung“ bewähren.
2. Versöhnung
Für uns Deutsche war und bleibt die Versöhnung, die wir erfahren, auch nach so langer Zeit ein Geschenk, für das wir dankbar sind.
Für mich als Deutscher Botschafter ist das Wohlwollen der Menschen hier in Russland angesichts der unfassbaren Opfer bewegend, ja es zeigt ihre Größe.
Versöhnung verbindet Erinnerung mit Zukunft. Versöhnung ist Bereitschaft zu gemeinsamer Zukunft. Deshalb wollen wir uns auch weiterhin um Versöhnung kümmern.
Nur einige wenige Beispiele:
Schülerinnen und Schüler der Deutschen Schule Moskau, einer russischen Partnerschule aus Rzhew und aus einem Gymnasium in Hamburg treffen sich zweimal jährlich, um gemeinsam über eine der verlustreichsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs zu sprechen und Lehren zu erörtern.
In Sankt Petersburg unterstützt Deutschland in diesem Gedenkjahr ein Krankenhaus, in dem Opfer der furchtbaren Blockade des damaligen Leningrads gepflegt werden. Zugleich werden junge Deutsche dort betagte ehemalige Blockadeopfer für einige Wochen im täglichen Leben unterstützen und von ihren Erinnerungen lernen. Ich danke Ihnen, Frau Nemkowa, dass Sie diese Begegnungen koordinieren.
Seit dem 8. Mai ist online ein gemeinsames Konzert junger deutscher und russischer Musiker zu sehen, coronabedingt getrennt aufgenommen - in St. Petersburg, in Moskau und in Berlin – dann zusammengefügt zu einem Gemeinschaftskonzert.
Diese Projekte und viele mehr, das Engagement unzähliger Menschen in Russland und Deutschland ist auch Teil der „gemeinsamen Zukunftsverantwortung“.
Und diese Projekte zeigen auch unser Verständnis der historischen Lehre, dass die Menschen in Deutschland und Russland nie wieder gegeneinander stehen dürfen.
3. Gemeinsamkeit
Wenn Erinnerung ehrlich und Versöhnung lebendig ist, dann ergeben sich „neue Horizonte“ – neue Horizonte für Gemeinsamkeit.
Diese Gemeinsamkeit gilt für die Erinnerung und sie gilt auch für die Zukunft.
Kein Land kann seiner Geschichte und seiner Geographie entfliehen.
Vor 75 Jahren gelang den damaligen Alliierten der Sieg auf den europäischen und asiatischen Kriegsschauplätzen in Gemeinsamkeit. Darauf haben auch die Präsidenten Putin und Trump in Erinnerung an das Treffen von Torgau hingewiesen.
Und angesichts unserer globalisierten Gegenwart und Zukunft wissen wir, dass kein Land der Welt die großen Zukunftsfragen alleine angehen können wird.
So sollten wir versuchen, mehr und mehr gemeinsam über unsere Geschichte nachzudenken, sie gemeinsam zu analysieren.
Auch hier ein Beispiel: Deutsche und Russische Historiker haben es vor wenigen Jahren geschafft, drei Bände eines gemeinsamen Geschichtsbuchs herauszugeben, übrigens auch zum 20. Jahrhundert. Die Arbeit war durchaus mühsam, aber sie hat sich gelohnt.
Dies war nicht nur Erinnerungsarbeit, sondern eine Investition in die Zukunft, ja „gemeinsame Zukunftsverantwortung“. Ich hoffe auf möglichst viel weiteren Austausch von Historikern und Geisteswissenschaftlern, gerade auch zu schwierigen Themen.
Und ich würde mich freuen, wenn neben nationale Geschichtsschreibung mehr und mehr Grenzen überwindende, gemeinsame Geschichtsschreibung käme. Eigentlich müsste unser Anspruch Europäische Geschichtsschreibung sein.
4. Europa
Damit bin ich wieder bei einer der Grundfragen unserer heutigen Veranstaltung: „Junge Generationen“ und „Gemeinsame Zukunftsverantwortung“.
Die Antwort heißt für mich vor allem Europa.
Die europäischen Strukturen sind heute gewiss nicht perfekt, aber wir sollten gerade angesichts des 75. Jahrestags nicht vergessen, wofür sie geschaffen wurden, und auch dies an die jungen Generationen weitergeben: In Europa gelang, was nach dem Ersten Weltkrieg noch gescheitert war, die Europäische Integration. Sie ist vor allem anderen ein Friedensprojekt, auf einem Kontinent, der über Jahrhunderte von Kriegen und Konflikten geprägt war.
Es ist wichtig, den jungen Menschen zu erklären, wo die Begründung für das oft komplizierte Miteinander der europäischen Länder zu finden ist: auf den Weiten der Soldatenfriedhöfe der beiden Weltkriege.
Dieser Integrationsprozess basiert auf dem Respekt für Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte. Und er basiert darauf, dass Frieden und Freiheit zusammengehören - Freiheit, die nach dem Krieg den Menschen auf der Hälfte des Kontinents über Jahrzehnte nicht gewährt war.
Es sind diese europäischen, auch euro-atlantischen Strukturen, zu denen Russland, nicht nur mit Europarat und OSZE dazugehört.
Und ich hoffe, dass die Umstände bald auch erlauben, dass mehr miteinander gemacht werden kann.
Denn am Horizont sehen wir ja von Berlin oder Brüssel aus genauso wie aus Moskau die großen Aufgaben, nicht zuletzt im Zusammenhang mit den großen Zukunftsfragen von Umwelt und Klima, von Armut in der Welt, von Pandemien.
Dies waren meine vier Gedanken zur „gemeinsamen Zukunftsverantwortung“ angesichts des Gedenkjahres.
Vielen Dank den Organisatoren des heutigen Moskauer Gesprächs und jetzt freue ich mich auf die Vorträge und Diskussionen.