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Grußwort von Michail Gorbatschow zum 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung

02.10.2020 - Artikel
Michail Gorbatschow
Michail Gorbatschow© Горбачев-Фонд

Liebe Freunde!

An diesem festlichen Tag gratuliere ich Ihnen herzlich zum 30. Jahrestag eines großen, wahrhaft historischen Ereignisses – der deutschen Wiedervereinigung.

Ihr Feiertag ist Teil eines großen internationalen Jubiläums. Die Wiedervereinigung Deutschlands wurde zum Symbol für die Überwindung der Spaltung Europas, für das Ende des Kalten Kriegs.

In jenen Jahren erlebte die Welt gewaltige Veränderungen. Es wurden entschiedene Schritte zum Rüstungsabbau, zur atomaren Abrüstung unternommen. Argwohn und Misstrauen zwischen den Staaten wichen nach und nach gegenseitigem Vertrauen und dem Wunsch nach Zusammenarbeit und Partnerschaft. Die Menschen befreiten sich von der Angst vor einem Krieg.

Den ersten Impuls für diesen Prozess gaben die Veränderungen, die in der Sowjetunion begonnen hatten – Perestroika und Glasnost. Die Menschen bei uns gewannen die Freiheit und das Recht, ihre Regierung zu wählen, die Politik tatsächlich zu beeinflussen. Und nachdem wir ihnen diese Rechte und Freiheiten gewährt hatten, konnten wir den Bestrebungen der Völker aus den Nachbarländern, unserer Verbündeten, nicht im Wege stehen. Von Anfang an wurde den Regierungen dieser Länder gesagt: Wir werden uns nicht in eure Angelegenheiten einmischen, ihr müsst euch vor eurem Volk verantworten.

Und als der Wind of Change diese Länder erfasste, bewiesen wir: unsere Worte waren nicht nur Rhetorik gewesen. Wir haben das Versprechen von der Wahlfreiheit durch Taten, durch unsere politische Haltung bestätigt. Und eine der wichtigsten Folgen davon war die deutsche Wiedervereinigung.

Der Weg dahin war nicht einfach. Er konnte auch nicht glatt verlaufen. Ich habe darüber gesprochen und geschrieben und halte es für nötig, heute daran zu erinnern. Die Situation war angespannt, jeder unvorsichtige Schritt hätte zur Explosion führen können. In Europa, auch in unserem Land, gab es Zweifel und Unruhe. Diese wurden von großen Politikern, auch von Staatschefs, geäußert. Sie äußerten sie öffentlich und noch mehr in vertraulichen Gesprächen. Unter diesen Umständen war es von grundlegender Bedeutung, welche Position die Sowjetunion einnehmen würde.

Ich sage es offen: die Zweifel und die Unruhe waren berechtigt. Die Erinnerung an den vom Nazi-Regime ausgelösten verheerenden Krieg war in der Erinnerung der Menschen noch lebendig. Unser Land, das sowjetische Volk, das russische Volk hatten in jenem Krieg unfassbare Verluste erlitten. Der Krieg hatte Millionen Familien zerstört, darunter auch meine.

Als die Geschichte nun ihren Lauf beschleunigte, als die Deutschen in Ost und West erklärten „wir sind das Volk“, brauchte es deshalb auf Seiten der politischen Führung Weisheit, Beherrschung, große Bedachtsamkeit und eine Vision. Das war eine Prüfung. Und gemeinsam haben wir sie bestanden. Ungeachtet der Schwierigkeiten, Hindernisse und Risiken, die auf Schritt und Tritt auftauchten, konnten wir diese immens wichtige historische Aufgabe bewältigen. Es wurden Dokumente unterzeichnet, welche die Grundlage für die Sicherheit in Europa unter neuen Bedingungen legten.

Bei allem verdienten Respekt für die politisch Verantwortlichen will ich jedoch, wie schon des Öfteren, unterstreichen: die Hauptakteure der Geschichte der deutschen Wiedervereinigung sind die Völker. Und ganz besonders die Deutschen und die Russen. Die Deutschen, indem sie bewiesen haben, dass die schreckliche Vergangenheit überwunden und dass Lehren und Schlüsse daraus gezogen wurden. Und die Russen, die nach all den Katastrophen des Krieges Verständnis für die Sehnsucht der Deutschen aufbrachten und auf sie zugingen. Als ich die schweren Entscheidungen im Strudel jener Ereignisse zu fällen hatte, stützte ich mich auf dieses Verständnis, auf den Willen und die Großherzigkeit unseres Volkes.

Heute können wir sagen: Deutschland, die Deutschen haben die Verpflichtungen erfüllt, welche sie im Vereinigungsprozess übernommen haben. Im Rahmen des Vertrags über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland wie im Rahmen des großen Vertrags zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik Deutschland, der am 9. November 1990 unterzeichnet wurde. Die Grundlagen für die Beziehungen zwischen Russland und der Bundesrepublik Deutschland sind stabil und, so glaube und hoffe ich, dauerhaft.

Unsere Pflicht ist es, die Beziehungen zwischen unseren Ländern zu schützen. Es darf nicht zugelassen werden, dass jemand versucht, unsere Völker zu entzweien. Dies ist jetzt besonders wichtig, wo so vieles in der Welt Besorgnis weckt. Die Situation in Europa, in der Welt ist alarmierend. Die Gründe dafür sind kompliziert und mehrdeutig, aber ich muss die Verantwortung derer erwähnen, welche sich zum Sieger im Kalten Krieg erklärt haben und sich selbst „besondere Rechte“ in der Weltpolitik zugesprochen haben.

In der Folge wurde vieles von dem, was wir vor 30 Jahren erreicht haben, umgestoßen. Und es braucht große Bemühungen, politischen Willen und Weisheit, um das Vertrauen wiederherzustellen und auf den Weg der Zusammenarbeit zurückzukehren. Das ist schwer, aber ich bin mir sicher, dass es möglich ist. Mitte der 80er Jahre, als sich zwei militärische Blöcke gegenüberstanden, bis an die Zähne mit Atomwaffen bewaffnet, war es noch schwerer. Und doch haben wir damals die Kraft gefunden, das Steuer der Weltpolitik hart herumzureißen. Möge das den heutigen politischen Entscheidungsträgern als Beispiel dienen!

Ich bin überzeugt: Wenn sie einander die Hand hinstrecken, ihre Bemühungen vereinen und Wege finden, um das in früheren Jahren Begonnene fortzuführen, dann werden die Völker Europas und der Welt, und mit ihnen Millionen Russen und Deutsche, sie von ganzem Herzen unterstützen und ihnen bei dieser historischen Aufgabe helfen.


Michail Gorbatschow


Grußwort von Michail Gorbatschow zum 30. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung

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