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Rede von Außenminister Heiko Maas im Deutschen Bundestag zur Debatte „80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion“
Vor fast 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion. Damit begann das mörderischste Kapitel des sogenannten Vernichtungskrieges im Osten, der im September 1939 mit dem Überfall auf Polen seinen Anfang genommen hatte. Den Nationalsozialisten ging es darum, „neuen Lebensraum“ zu erobern. Dafür wurde die Versklavung und Auslöschung ganzer Staaten und Völker nicht nur in Kauf genommen; sie war erklärtes Kriegsziel. Die erbarmungslose deutsche Kriegsführung verwandelte zahllose Dörfer und Städte in verbrannte Erde. Millionen Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, fielen den Repressalien und dem Terror der deutschen Besatzer zum Opfer. Die Wehrmacht schlug damals geltendes Kriegsrecht in den Wind und ließ Millionen sowjetischer Kriegsgefangener bewusst verhungern. Und es waren deutsche Täter, die vor allem in Mittel- und Osteuropa das Menschheitsverbrechen des Holocaust verübten.
Fassungslos blicken wir auf diesen Teil unserer Geschichte, auf den Rassenwahn und die völlige moralische Enthemmung, die auch gerade im Ostfeldzug ihren fürchterlichen Ausdruck fanden. Und voll Trauer und Scham verneigen wir uns vor den über 30 Millionen Menschen, die allein in Mittel- und Osteuropa zwischen 1939 und 1945 ihr Leben lassen mussten in dem von Deutschland geplanten, begonnenen und bis zuletzt vorangetriebenen Krieg.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, angesichts der Dimension dieser Verbrechen grenzt es auch 80 Jahre später noch an ein Wunder, dass uns unsere mittel- und osteuropäischen Nachbarn die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Dafür sind wir ihnen zutiefst dankbar.
Diese Dankbarkeit geht mit einer besonderen Verantwortung einher, der Verantwortung, mit aller Kraft weiter an der Aussöhnung zu arbeiten zwischen den Menschen in Deutschland und den Menschen in Russland, der Ukraine, Belarus, Polen, den baltischen, den südkaukasischen und den zentralasiatischen Staaten und in all den anderen Ländern, denen Deutsche im Zweiten Weltkrieg schreckliches Leid angetan haben. Für diese Aussöhnung darf es niemals einen Schlussstrich geben, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich bin dem Bundestag deshalb sehr dankbar für die im vergangenen Jahr gefassten Beschlüsse, in Berlin Erinnerungsorte für die Opfer des Vernichtungskrieges in Polen und in ganz Europa zu schaffen. An deren Umsetzung arbeiten wir seither mit allem Nachdruck zusammen mit unseren Partnern aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Und unter sehr enger Einbindung unserer polnischen Freundinnen und Freunde.
Genauso setzen wir unsere Erinnerungsarbeit in den Ländern Ost- und Mitteleuropas fort. In der Ukraine werden wir das geplante neue Holocaustmuseum Babyn Jar unterstützen und in Belarus die Sanierung der Geschichtswerkstatt im ehemaligen Ghetto von Minsk.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir ganz besonders wichtig gewesen, dass wir in den vergangenen drei Jahren endlich auch eine humanitäre Geste für die Überlebenden der Leningrader Blockade auf den Weg gebracht haben. Der grausame Tod von 1 Million Menschen in der von der Wehrmacht belagerten Stadt war eines der schlimmsten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges.
Ich habe Sankt Petersburg zuletzt vergangenen August besucht und dort mit Überlebenden der Blockade gesprochen. Wer die Erinnerungen dieser Menschen gehört hat, wer gehört hat, was dort geschehen ist, was ihnen widerfahren ist, was ihnen angetan wurde, der wird das nie wieder vergessen. Und wer ihren Willen zur Versöhnung gespürt hat, der steht in der Pflicht, dieses Geschenk anzunehmen durch eine Erinnerungsarbeit, die in die Zukunft weist. Dem fühlen wir uns auch verpflichtet.
Wenn wir dieses Jahr an den 22. Juni 1941 erinnern, wollen wir auch Begegnungen zwischen jungen Menschen einen ganz besonderen Stellenwert einräumen. So werden Jugendliche aus ganz Europa im Rahmen des Peace-Line-Projektes gemeinsam von Deutschland über Russland und Litauen nach Polen reisen, um so an die Vergangenheit zu erinnern und ins Gespräch zu kommen, vor allen Dingen über eine gemeinsame Zukunft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit unserem Bekenntnis zur europäischen Einigung haben wir die wichtigste Konsequenz aus unserer Vergangenheit gezogen. Doch zu einem bewussten Umgang mit dieser Vergangenheit gehört auch, das historisch bedingt andere Verständnis unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn von Begriffen wie „Souveränität“ und „Nation“ zu respektieren. Das sollten wir berücksichtigen, wenn wir ihnen die Hand reichen für eine weitere Vertiefung der europäischen Integration.
Schließlich gehört zu einem bewussten Umgang mit unserer Geschichte, dass wir das Völkerrecht über das Recht des Stärkeren stellen und für die universelle Geltung der Menschenrechte eintreten. Auch deshalb haben wir uns in der Europäischen Union dazu entschlossen, auf die politische Willkür zu reagieren, mit der Minsk und Moskau gerade auch in jüngster Zeit eklatant gegen internationale Regeln und universelle Werte verstoßen haben. Und deshalb bleibt es bei unserer klaren Haltung zur völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und zur territorialen Integrität der Ukraine. Das wird auch meine Botschaft in den Gesprächen sein, die ich heute Nachmittag mit dem ukrainischen Amtskollegen hier in Berlin führe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt keine Politik ohne Geschichte. Umso wichtiger ist es, dass wir die richtigen Schlüsse aus unserer eigenen sehr schwierigen Geschichte ziehen. 80 Jahre nach dem 22. Juni 1941 heißt das, unsere ganze Kraft einzusetzen für Frieden und Freiheit, für Zusammenhalt und Demokratie auf unserem Kontinent.
Herzlichen Dank.
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