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„Putin ist einsam und isoliert wie nie“

11.10.2022 - Interview

Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit der NOZ

​​​​​​​Frage: Frau Baerbock, Russlands Präsident Wladimir Putin hat die von Russland eroberten Gebiete in der Ostukraine annektiert. Sind die Gebiete damit für die Ukraine verloren?

Außenministerin Annalena Baerbock: Nein, sie gehören natürlich weiterhin zum Staatsgebiet der Ukraine. Annexionen verstoßen gegen Völkerrecht. Sie sind damit null und nichtig. Das hat auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen sofort klargemacht.

Frage: Wenn Deutschland keine Kampf- und Schützenpanzer liefert, wie soll der Ukraine eine Rückeroberung gelingen?

Außenministerin Annalena Baerbock: Erst mal ist festzuhalten: Mit den Scheinreferenden verhöhnt Putin nicht nur die Tausenden Menschen, die vor Ort so furchtbar unter der russischen Besatzung leiden. Er verhöhnt auch die Charta der Vereinten Nationen. Deswegen wird auch kaum ein anderes Land diese Annexion anerkennen – was wichtig ist für den Zusammenhalt der Ukraine und woran ich als Außenministerin mit vielen Kolleginnen und Kollegen daher intensiv arbeite. Zugleich – ja – braucht die Ukraine auch weiterhin schwere Waffen, damit sie die Gebiete und die Menschen dort von der russischen Besatzung befreien kann. Daher unterstützen wir die Ukraine militärisch weiterhin.

Frage: Putin rekrutiert zusätzliche 300000 Soldaten, aber das dauert. Müsste nicht gerade jetzt maximale Militärhilfe kommen, um diese knappe Zeit zu nutzen?

Außenministerin Annalena Baerbock: Diese Hilfe kommt ja. Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten modernstes Material geliefert und liefern weiter. Denn wir sehen, was für einen Unterschied das macht. Eines der neuesten und besten Luftabwehrsysteme, Iris-T, wird dieser Tage in der Ukraine eintreffen. Drei weitere folgen. Auch verschiedene Panzertypen aus Deutschland sind in der Ukraine bereits im Einsatz, zum Beispiel Flugabwehrpanzer Gepard und Panzerhaubitzen 2000, und über den Ringtausch gehen auch Schützenpanzer in die Ukraine. Zugleich überprüfen wir ständig, was wir mehr tun können.

Frage: Aber keine Leoparden, keine Marder. „Keine Alleingänge“, heißt es immer. Sie wissen, dass die Franzosen nicht wollen und die USA rund zwei Drittel der Unterstützung leisten. Ist es nicht ein historisches Versagen Deutschlands, jetzt nicht alles zu geben?

Außenministerin Annalena Baerbock: Ich habe im letzten halben Jahr dieses furchtbaren russischen Angriffskriegs ja auch immer wieder selbstkritisch reflektiert, ob wir schnell genug liefern. Aber zugleich dürfen wir nicht ausblenden, dass wir in einer unberechenbaren Situation sind, weil der russische Präsident mit jeder zwischenstaatlichen, politischen, aber auch menschlichen Regel bricht. Deswegen ja: Wir stehen an einem entscheidenden Moment der Weltgeschichte. Wir müssen im Licht der Situation immer wieder schauen, was wir noch liefern können, um das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und damit die internationale Friedensordnung zu verteidigen. Aber unsere militärischen Mittel sind begrenzt, und es wäre vermessen zu glauben, Deutschland könnte den Kriegsverlauf im Alleingang ändern. Das können wir nur gemeinsam mit unseren internationalen Partnern.

Frage: Moskau droht mit der Atombombe. Ist die Angst davor der Grund für die deutsche Zurückhaltung?

Außenministerin Annalena Baerbock: Angst ist immer ein schlechter Ratgeber, erst recht, wenn unser Gegenüber mit allen Regeln bricht. Deswegen wägen wir jeden Schritt vorsichtig ab, sind uns zugleich der immensen Verantwortung bewusst, dass Nichthandeln zu noch mehr Leid führen würde. Wenn Russland mit Landraub und Erpressung durchkommt und diesen Krieg gewänne – also die Ukraine vernichtet – läge nicht nur die europäische Friedensordnung in Trümmern, sondern kein kleines Land wäre mehr sicher.

Frage: Trauen Sie Putin zu, eine Atombombe abzuwerfen?

Außenministerin Annalena Baerbock: In den nun schon mehr als 220 Kriegstagen hat Putin immer wieder gezeigt, dass er vor schlimmsten Kriegsverbrechen nicht zurückschreckt. Er macht vor Krankenhäusern und Kindern nicht halt und ist sogar bereit, sein eigenes Land zu ruinieren. Wir nehmen seine Worte sehr ernst, alles andere wäre fahrlässig. Allerdings hat Putin schon zuvor unverantwortliche Drohungen ausgesprochen, und er weiß zugleich, dass kein Land auf der Welt – auch nicht diejenigen, die sich wie China bisher nicht klar positionieren – bei dieser Frage ein Zündeln einfach so akzeptieren würde. Auf Erpressung dürfen und werden wir uns nicht einlassen, das würde Putin als Einladung zu weiterer Eskalation verstehen. Seine Rede hat klargemacht, dass sein imperialer Wahn sich nicht auf die Ukraine beschränkt. Deshalb setzen wir unsere Unterstützung für die Ukraine verantwortungsvoll fort.

Frage: Wann wird dann über Frieden verhandelt?

Außenministerin Annalena Baerbock: Jeden Tag versuchen wir es. Jeden Tag seit dem 24. Februar bekniet einer der über 190 Staaten der Welt oder eine internationale Organisation im Auftrag der Weltgemeinschaft den russischen Präsidenten, das Bomben einzustellen. Menschen Fluchtkorridore zu ermöglichen. Kinder nicht zu verschleppen. Und die einzige Antwort des russischen Präsidenten sind weitere Gräueltaten. Wie es derzeit um seine Verhandlungsbereitschaft steht, hat Putin in seiner Rede vom Freitag leider sehr klargemacht. Sein Verhandlungsangebot lautete in etwa: „Wir rauben euer Land, unterwerfen eure Bürgerinnen und Bürger, und ihr dürft das dann unterschreiben.“ Das ist das Gegenteil von Frieden. Das ist Terror und Unfreiheit. Dieser Angriffskrieg ist zu Ende – sofort – wenn der Angreifer Russland aufhört, die Ukraine zu vernichten. Wenn allerdings die Ukraine aufhören würde, sich zu verteidigen, dann wäre die Ukraine zu Ende, und die furchtbaren Verbrechen gegen die Menschen wären Alltag auch in Kiew. Das muss jedem klar sein, der fordert, wir sollten die Ukraine nicht mehr unterstützen oder Putin nachgeben. Putin hat ohne Grund sein Nachbarland angegriffen, Millionen in furchtbares Leid versetzt, die Welt aus den Fugen gehebelt – er muss diesen Krieg beenden.

Frage: Abertausende Russen versuchen gerade, aus ihrem Land zu fliehen, um nicht in den Krieg geschickt zu werden. Aber Finnland und das Baltikum haben ihre Grenzen geschlossen. Wird Deutschland den Deserteuren helfen?

Außenministerin Annalena Baerbock: Diejenigen Russen, die sich mutig gegen diesen Krieg stellen, wollen wir nicht alleinlassen. Deswegen haben wir sehr schnell entschieden, Visa für politisch besonders verfolgte Journalistinnen, Menschenrechtsverteidiger, Aktivisten zu vergeben, um sie in Sicherheit zu bringen. Und natürlich gilt das Recht auf Asyl.

Frage: Also nein?

Außenministerin Annalena Baerbock: Die Welt ist nicht so einfach, wie man sie sich wünscht. Die baltischen Staaten und Finnland sind noch sehr viel direkter betroffen, als wir es sind. Wir sind gut beraten, ihre Warnungen und Sorgen ernst zu nehmen. Russland versucht mit allen Mitteln des hybriden Kriegs uns zu spalten. Wir können daher nicht einfach sagen: Wir holen Hunderttausende Kriegsdienstverweigerer aus Russland raus, und die sollen jetzt alle über die baltische oder finnische Grenze. Das geht schon praktisch nicht, aber eben auch aus Sicherheitsgründen. Deshalb müssen wir bei jedem Schritt die Folgen gut durchdenken, und zwar gemeinsam mit unseren europäischen Partnern. Dass Hunderttausende Russen gerade aus ihrem Land zu fliehen versuchen, zeigt, dass der jungen Generation bewusst wird, welche fatalen Folgen dieser Krieg für ihr eigenes Leben und ihre Gesellschaft hat. Putin ist dabei, sein eigenes Land zu ruinieren.

Frage: Die Geflüchteten aus der Ukraine werden bewundernswert aufgenommen. Nun steigt die Zahl der Menschen, die über die Balkanroute zu uns gelangen wollen. Was steckt dahinter?

Außenministerin Annalena Baerbock: Zunächst: Ich bin in diesen Tagen dankbar, Außenministerin eines Landes sein zu dürfen, das über 465.000 Frauen und 350.000 Kindern aus der Ukraine seine

Wohnzimmer, seine Schulen, seine Betriebe, seine Krankenhäuser geöffnet hat. Das ist für mich Heimat Europa, und es ist nicht „nur“ Solidarität. Es ist in unserem puren eigenen Sicherheitsinteresse, uns dem Krieg entgegenzustellen – vereint in Europa und in unserem Land, statt uns von Putin spalten zu lassen. Auch wenn das – darum muss man nicht herumreden – eine gewaltige Herausforderung ist.

Was Geflüchtete aus anderen Ländern angeht: Dass viele Afghanen nach Europa fliehen, liegt daran, dass die Taliban das Land brutal unter Kontrolle gebracht haben und es Frauen unmöglich machen, ihr Leben zu leben, zur Schule oder zur Arbeit zu gehen. Und auch der Krieg in Syrien veranlasst weiter viele Menschen zur Flucht. Sie alle haben nur einen Wunsch – so wie wir: dass ihre Kinder in Sicherheit leben können.

Frage: In „Ihrem“ Bundesland Niedersachsen wird am Sonntag gewählt. Ohne die Landtagswahl wäre das AKW in Lingen auch bis März oder noch länger am Netz geblieben, nicht wahr?

Außenministerin Annalena Baerbock: Nein. Für Wahlkampf-Geplänkel sind die Zeiten zu ernst.

Frage: Der Eindruck stimmt nicht, Lingen werde nur aus Rücksicht auf die grüne Atomstrom-Gegnerschaft vom Netz genommen?

Außenministerin Annalena Baerbock: Der Atomausstieg wurde vor Jahren beschlossen, und zwar nicht von dieser, sondern von mehreren Vorgängerregierungen – aus guten Gründen. Zugleich müssen wir in dieser harten Zeit zusammenstehen. Das tun wir: solidarisch mit der Ukraine, solidarisch in unserem Land und mit unseren europäischen Nachbarn. Robert Habeck hat auf Basis der Fakten entschieden: Für eine Notsituation können im Süden zwei Kraftwerke aushelfen, wenn die französischen Atomkraftwerke ausfallen sollten.

Frage: Wird der Grünen-Parteitag womöglich noch „Nein“ zum Akw-Reservebetrieb sagen?

Außenministerin Annalena Baerbock: Unser Land erlebt gerade den heftigsten wirtschaftlichen Schock seit dem Zweiten Weltkrieg, und die Friedensordnung Europas ist in Gefahr. In so einer Zeit braucht es Mut und Rückgrat, schwierige Entscheidungen zu treffen. Das tun wir Grünen. Das tut unser Land. Gemeinsam. Darauf bin ich stolz und es ist unsere beste Waffe gegen Putins Angriffskrieg.

Interview: Tobias Schmidt

www.noz.de

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