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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock beim Panel „Unlearning Helplessness: Meeting Global Challenges“ auf der Münchener Sicherheitskonferenz

Bundesaussenministerin Annalena Baerbock spricht auf der Muenchner Sicherheitskonferenz

Bundesaussenministerin Annalena Baerbock spricht auf der Muenchner Sicherheitskonferenz, © picture alliance / photothek / Ute Grabowsky

18.02.2022 - Rede

Ich freue mich heute hier sprechen zu können, zum Auftakt des Panels „Unlearning Helplessness: Meeting Global Challenges“.

Vor wenigen Tagen war ich vor Ort in Lebedynske nahe der Kontaktlinie in der Ostukraine. Und ich stand dort, hinter mir im Rücken ein zerstörtes Haus und rechts neben mir ein Schulhof. Und wie jede Mutter dachte ich an meine Kinder, die man morgens zur Schule bringt, ganz unbedarft, in großer Hektik manchmal – und hatte zugleich die Mütter vor Augen, die das genau in diesem Ort nicht tun. Nämlich nicht einfach mal so nebenbei und selbstverständlich, sondern jederzeit mit großer Sorge. Weil die Gewalt allgegenwärtig ist. Und wie real diese Sorge ist, das wird klar, wenn wir hören, dass es gestern hunderte Verletzungen des Waffenstillstands gegeben hat. An einen friedlichen Alltag für Kinder ist an diesem Ort nicht zu denken.

Das zeigt, worum es wirklich geht, wenn wir über Minsk reden. Es ist nicht nur ein Verhandlungsformat. Minsk ist auch nicht nur ein technischer Begriff. Sondern es geht um menschliche Sicherheit. Darum, ob Familien, Kinder in der Mitte Europas, in der Mitte unseres Europas, sicher und in Frieden aufwachsen können.

Heute – das müssen wir so deutlich sagen – droht ein neuer Krieg mitten in unserem Europa. Russland spricht mit seinem Truppenaufmarsch eine absolut inakzeptable Drohung aus. Gegenüber der Ukraine. Aber auch gegenüber uns allen und unserer Friedensarchitektur in Europa.

Diese Krise ist deswegen – und da müssen wir sehr genau beim Framing aufpassen – keine Ukraine-Krise. Sie ist eine Russland-Krise. Wir rufen daher Russland eindringlich auf, seine Truppen umgehend abzuziehen. Erste Signale – und das erleben wir ja in den letzten Wochen und Tagen immer wieder – waren ein Hoffnungsschimmer. Aber wir müssen jetzt auch Taten sehen. Denn die russische Drohung ist weiterhin real. Und genauso real ist aber auch unsere gemeinsame Antwort: Wenn es zu einem russischen Angriff auf die Ukraine käme, dann hätte dies massive Konsequenzen für Russland – finanziell, politisch und wirtschaftlich.

Und wir haben noch eine weitere, genauso deutliche Botschaft an Moskau: Wir wollen das nicht, wir wollen diese Konsequenzen eigentlich gar nicht. Wir wollen einen ernsthaften Dialog über Sicherheit und Frieden in unserem gemeinsamen Europa. Das ist in unser aller Interesse. Und ja, wir wollen das Risiko von Eskalation in Europa minimieren. Was denn sonst? Ja, auch wir wollen Verlässlichkeit schaffen. Genau deswegen haben wir in den letzten Wochen als NATO- Staaten dazu substanzielle Vorschläge erarbeitet. Die liegen jetzt in Moskau auf dem Tisch. Und jederzeit, jede Minute, in diesem Moment, gestern, heute und morgen wollen wir genau darüber reden.

Aber was wir nicht wollen, und was wir auch nicht können, ist unsere gemeinsam errichtete Sicherheitsarchitektur in Frage stellen. Der gestrige Antwortbrief von russischer Seite klingt zu meinem großen Bedauern aber genau danach. Herr Präsident Putin, lieber Kollege Sergej Lawrow, Sie unterstreichen in Ihrem Antwortschreiben, dass zur Bündnisfreiheit auch da Prinzip gehört, dass Sicherheit nicht auf Kosten anderer gehen darf. Ja, darauf haben wir uns gemeinsam verständigt. Wir gemeinsam haben uns darauf verständigt, dass es eine gemeinsame Sicherheit ist, die nicht auf Kosten anderer gehen darf. Zu diesem Grundsatz bekennen wir uns ausdrücklich. Aber gerade deswegen müssen wir doch über den Truppenaufmarsch an der ostukrainischen Grenze sprechen, der natürlich auf Kosten der Ukraine geht. 130.000 Soldaten an der Grenze – das ist schwer nicht als Bedrohung zu verstehen. Wer gemeinsam in Sicherheit leben will, der droht einander nicht. Wer gemeinsam in Sicherheit leben will, der spricht am Verhandlungstisch über unsere gemeinsame Sicherheit.

Klar – und so ehrlich muss man auch sein –, wir werden jetzt, Tony Blinken und ich und viele, viele andere Außenministerinnen und Außenminister, Verteidigungsminister, Diplomaten hier in diesem Raum – wir werden immer wieder gefragt: Jetzt geht das schon eine Woche, wie lange soll das Ganze den noch dauern? Vielleicht Wochen, vielleicht Monate. Verhandlungen sind meistens ein Verhandlungsmarathon. Mit Rückschlägen, mit Missverständnissen, manchmal auch mit Fouls. Aber wer Angst vor der Strecke hat, und gar nicht erst antritt, der hat schon verloren.

Helsinki oder Jalta – so hat der Historiker Timothy Garton Ash vor kurzem die Wahl umrissen, vor der wir Europäerinnen und Europäer jetzt stehen. Die Wahl also zwischen einem System gemeinsamer Verantwortung für Sicherheit und Frieden, das auf Basis der Grundakte von Helsinki und der Charta von Paris steht, die wir alle unterzeichnet haben. Oder einem System der Mächterivalität und Einflusssphären, für das die Jalta-Konferenz von 1945 stand.

Für mich – und ich glaube für alle hier im Raum – ist das die entscheidende Frage. Denn was hier für uns Europäerinnen und die internationale Gemeinschaft zur Debatte steht, das ist nicht nur die Frage, wie wir diese aktuelle Krise lösen. Es ist die Frage, wie wir in Zukunft für unsere regelbasierte Ordnung einstehen. Eine Ordnung, die auf der Charta der Vereinten Nationen basiert, auf den Prinzipien von Selbstbestimmung, der Achtung von Freiheit und Menschenrechten und: dem Prinzip der internationalen Zusammenarbeit – wie der Generalsekretär der Vereinten Nationen gerade hier so eindrücklich unterstrichen hat.

Funktioniert dieses Prinzip noch? Oder leben wir – und das ist der Titel der heutigen, morgigen und übermorgigen Konferenz – in einem Zeitalter der kollektiven „Helplessness“, der Resignation und Hilflosigkeit, wie dieses Panel überschrieben ist?

Lieber Tony Blinken, wir beide führen dieser Tage unzählige Gespräche. Aber was mich in diesen schwierigen Zeiten optimistisch stimmt, ist genau das Wissen um die Kraft unserer transatlantischen Geschlossenheit und die Unverbrüchlichkeit unseres Bündnisses. Und um die Stärke unserer liberalen Demokratien. Deswegen ist meine Antwort ganz eindeutig auf die Frage wo wir gerade stehen – hilflos oder nicht? Wir sind nicht kollektiv hilflos. Im Gegenteil. Wir schöpfen unsere Stärke aus unserem gemeinsamen Handeln. Wir haben es alle gemeinsam in der Hand, ob wir „hilflos“ sind, oder eben nicht.

Drei Elemente sind dabei für mich entscheidend: Entschlossenheit, Solidarität und Verlässlichkeit. Das gilt in der Russland-Krise, aber es gilt eben auch darüber hinaus.

Entschlossen sind wir mit Blick auf die Maßnahmen, die wir für den Fall eines Vorgehens Russlands gegen die Ukraine vorbereiten. Diese Sanktionen wären präzedenzlos und mit allen Partnern abgestimmt und vorbereitet. Wir als Deutschland sind bereit, selber dafür einen hohen wirtschaftlichen Preis zu bezahlen. Deswegen liegen für mich, liegen für uns, alle Optionen auf dem Tisch, auch Nord Stream 2.

Solidarisch sind wir, weil wir zur territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine stehen. Und ich sage es hier sehr deutlich: Solidarität heißt gerade in Drucksituationen klar zu sein: Über den Weg, den ein Land gehen will, können nur das Land selbst, und vor allen Dingen seine Menschen entscheiden. Wir verhandeln nicht über den Kopf der Ukraine hinweg. Solidarität heißt, dass wir die Sorgen unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn ernst nehmen. Deswegen verstärken wir gemeinsam unser NATO-Engagement. Solidarität heißt aber auch, und das ist für mich wichtig: Außenpolitik ist nicht nur Politik zwischen Politikerinnen und Politikern, nicht nur ein Hin- und Herpendeln zwischen Hauptstädten. Sondern bei der Außenpolitik geht es um Menschen. Und deswegen heißt Solidarität in der jetzigen Situation eben nicht nur Solidarität mit Kiew, sondern mit den Menschen in der Ukraine, und vor allen Dingen den Menschen an der Kontaktlinie. Dazu ist die OSZE entscheidend, deren Beobachter dort unsere Augen und Ohren sind. Wir müssen gemeinsam sicherstellen, dass sie ihre Arbeit effektiv ausüben können – gerade jetzt, wo die Gewalt um die Kontaktlinie in der letzten 48 Stunden dramatisch zugenommen hat.

Dies ist jetzt einer der gefährlichen Momente, wo aus Provokation und Desinformation, Eskalation werden kann. Ich sage es klar und deutlich: Dieses Spiel machen wir nicht mit! Ganz im Gegenteil: Wir arbeiten mit aller Kraft an konstruktiven Wegen aus der Krise. Im Normandie-Format, in der EU, in der NATO und im Sicherheitsrat. Jeder Schritt in Richtung Frieden ist mühsam. Wir ringen um jeden Millimeter. Aber jeder Millimeter ist besser als keine Bewegung.

Und damit bin ich bei meinem dritten Punkt. Verlässlichkeit – in einer Außenpolitik, die auf klaren Werten basiert. Für die Menschen in der Ukraine geht es um ihr Recht auf Freiheit, ihr Recht, selber über ihre Zukunft entscheiden zu können. Für uns alle geht es um nicht weniger als den Frieden in Europa und die Frage, ob wir unsere regelbasierte Ordnung verteidigen, auch wenn es hart auf hart kommt. Wir leben in einer Welt, in der diese regelbasierte Ordnung nicht nur in Osteuropa unter Druck gerät – mit wachsenden geopolitischen Spannungen, im Wettbewerb zwischen autoritären Kräften und liberalen Demokratien.

Wir sehen: Wenn wir uns als liberale Demokratien in diesem Wettbewerb zurückziehen, dann werden andere diese Lücken füllen. Das erleben wir mit privaten Söldnergruppen oder auch mit großen Infrastrukturvorhaben in Afrika. Aber wir haben es auch erlebt in Europa, in der EU: Als wir unsere Lücke der Solidarität gelassen haben. Bei Investitionen in Stromnetze, in Autobahnen oder in digitale Infrastruktur. Und noch stärker haben wir es gesehen zu Beginn dieser Pandemie bei der Impfstoffverteilung. Wenn andere reingehen, dann passiert das oftmals nicht aus altruistischen Gründen, sondern dahinter steckt ein knallhartes geostrategisches Kalkül.

Daher müssen wir aus meiner Sicht als liberale Demokratien, in dem Wettstreit zwischen autoritären Kräften und liberalen demokratischen Werten nicht nur deutlich sagen was andere falsch machen, sondern durch unser Handeln zeigen, wofür wir gemeinsam einstehen.

Die gemeinsame Erholung nach der Pandemie, was der US-Präsident Biden und auch die Vereinten Nationen unter diesem schönen Label „Build Back Better“ definiert haben, das ist auch eine Riesenchance für uns alle, für die internationale Zusammenarbeit, es beim Weg aus der Krise gemeinsam wirklich richtigzumachen. Für die Ukraine auf ihrem Weg aus der Krise heraus zu investieren, gemeinsam zu investieren in Infrastruktur, aber eben auch gemeinsam zu investieren auf dem Weg aus der Pandemie.

Und daher wird die deutsche G7-Präsidentschaft, die wir ja dieses Jahr auch innehabe, vor allen Dingen dieses Motto haben. Wir zeigen, was unsere Werte sind, wir zeigen, das internationale Zusammenarbeit stärker ist als nationale Alleingänge. Und dass eine Ordnung auf der Grundlage des internationalen Rechts, eines fairen Miteinanders, der Demokratie und Menschenrechte mittelfristig mehr bringt als nationale Abschottung.

Und dazu zählen für mich beim Stichwort Menschenrechte – und ja, das sage ich auch als erste Außenministerin meines Landes nach 151 Jahren – dazu zählen für mich auch die Frauenrechte. Frauenrechte sind der Gradmesser für den Zustand liberaler Demokratien. Wir erleben das weltweit – und das sage ich auch als Deutsche und als Europäerin – wie nicht nur in anderen Ländern, sondern wir haben es zu Beginn der Pandemie auch in unserem Land erlebt, dass das Beschwören des starken Mannes oftmals eben nicht der erfolgreichste Weg ist. Und wir sehen weltweit, dass das Beschwören des einen einzigen starken Mannes mit dem Erstarken von autoritären Kräften und mit einem Abbau von demokratischen Rechten einhergeht.

Und daher, und das war einer der schönen Sätze, die ich von der Kontaktlinie mitgenommen habe, da haben nämlich einige der Mütter gesagt: „Erst wenn Frauen sicher sind, sind alle sicher“. Und das ist unsere Aufgabe. Und in dem Sinne bin ich überzeugt, dass unsere globalen Herausforderungen wie die Klimakrise – Sie haben das angesprochen, 1,5 Grad Pfad –, die Pandemiebekämpfung, nicht einer alleine, sondern nur wir alle gemeinsam lösen können – mit klarem Wertekompass.

Wir müssen uns bewusst machen: Wir sind in einer wirklich schwierigen Krise, gerade hier in Europa, gerade hier als Transatlantiker. Nach dieser Krise wird diese Welt eine andere sein. Es ist an uns, wir haben es in der Hand.

Jetzt ist die Stunde für das Recht und den Frieden in Europa einzustehen.

Herzlichen Dank.

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