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„Wir werden um jeden Millimeter mehr Sicherheit ringen müssen.“

Bundesaussenministerin Annalena Baerbock

Bundesaussenministerin Annalena Baerbock, © Janine Schmitz/photothek.de

21.01.2022 - Interview

Außenministerin Annalena Baerbock im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (SZ).

Frau Ministerin, Sie sind zurück von Gesprächen mit Ihrem russischen Kollegen, aber es sieht nicht so aus, als habe sich Sergej Lawrow einen Millimeter bewegt. Was haben Sie erreicht in Moskau?

Dass wir wieder im Dialog sind, und Dialog ist der einzige Ausweg aus dieser Krise. Wir haben mehrere Stunden miteinander gesprochen und zum Teil gestritten. Ich habe sehr deutlich gemacht, dass wir nur gemeinsam für Sicherheit in Europa sorgen können. Das Fundament dabei ist die Souveränität jedes einzelnen Staates, der Verzicht auf die Androhung von Gewalt. Zugleich ist mir wichtig, dass Deutschland und Russland nicht nur historisch sehr eng miteinander verbunden sind, sondern auch kulturell und mit Blick auf den Austausch Hunderttausender Menschen. Meine Verantwortung als Außenministerin ist, im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in unseren beiden Ländern daran zu arbeiten, in Frieden und Sicherheit im gemeinsamen Haus Europa zusammenzuleben, zu dem auch Russland gehört.

Sehen Sie denn nach Ihren Gesprächen einen Ausweg aus der Krise oder zumindest eine Bereitschaft Russlands, sich auf einen diplomatischen Prozess einzulassen?

Wenn man zwei Jahre lang noch nicht einmal in der Lage war, sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, wäre es naiv zu glauben, dass man in ein paar Stunden alle Probleme lösen kann. Aber Aufgabe einer starken Außenpolitik ist, im Gespräch zu bleiben. Und da sehe ich schon, dass man sich zwar nicht in Siebenmeilenstiefeln, aber in kleinen Schritten aufeinander zubewegt hat. Unser gemeinsames Verständnis dieses nicht ganz einfachen Tages war, dass wir wieder in das Normandie-Format zurückkehren sollten.

Dabei vermitteln Deutschland und Frakreich zwischen Russland und der Ukraine im Konflikt im Osten des Landes. Ist Russland bereit, jetzt wieder über die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen sprechen? Oder nur über seine Forderung nach einer Sicherheitsordnung in Europa, in der Moskau für sich beansprucht, das Schicksal seiner Nachbarn bestimmen zu können?

Es gab ein gemeinsames Grundverständnis darüber, dass wir mit Blick auf die katastrophale humanitäre Situation in der Ostukraine an der Umsetzung der Minsker Abkommen arbeiten müssen. Dort leiden Menschen jeden Tag, seit Beginn der Pandemie können sie nicht einmal mehr ihre Verwandten sehen. Das ist ein Millimeter-Schritt, aber zumindest bei diesem Thema haben wir wieder eine gemeinsame Gesprächsgrundlage.

Lawrow hat gesagt, es gehe nicht darum, dass man sich treffe, sondern warum.

Das ist mal einer der Punkte, bei dem wir uns einig sind. Wenn ich mich mit Kolleginnen und Kollegen treffe, dann mit einer klaren Botschaft, einer klaren Haltung und einem klaren Ziel. Wir sind übereingekommen, Vorbereitungen zu treffen, um über jeden einzelnen Satz der Minsker Abkommen zu reden. Das bleibt mühsam. Wir werden um jeden Millimeter mehr Sicherheit ringen müssen. Aber das ist besser als keine Bewegung.

Will Russland nicht hauptsächlich mit den USA reden?

Natürlich spielen die USA eine wahnsinnig wichtige Rolle. Gerade im Abrüstungsbereich ist es sehr wichtig, dass die Amerikaner mit den Russen auch bilateral sprechen, und auch im Nato-Russland-Rat und in der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gibt es wieder Gespräche. Aber diese vier Verhandlungsstränge sind keine Konkurrenzveranstaltungen. Das Besondere am Normandie-Format ist, dass dort die Ukraine und Russland an einem Tisch sitzen, Frankreich und Deutschland sind als Vertreter Europas beteiligt, und es geht nun einmal um die Sicherheit Europas.

Die Ukraine und Russland werfen sich gegenseitig vor, die Verpflichtungen aus den Minsker Abkommen nicht umzusetzen. Welche Forderungen haben Sie da auch an Kiew?

Fakt ist, dass mit der Besetzung der Krim, aber auch dem gewaltsamen Vorgehen der Separatisten in der Ostukraine die Souveränität der Ukraine massiv verletzt wird. Um aus diesem völkerrechtswidrigen Zustand herauszukommen, hat man sich in den Minsker Abkommen darauf verständigt, in Schritten vorzugehen. Besonders dringlich ist, dass auch wieder darüber gesprochen wird, wie wir die humanitäre Situation in den Separatistengebieten verbessern und die Versorgung der notleidenden Menschen sicherstellen können. Letztlich geht es in der Außenpolitik immer um die Sicherheit von Menschen, das darf man nicht aus den Augen verlieren. Und da ist es ein Problem, dass die Mission der OSZE nicht den uneingeschränkten Zugang erhält, den sie braucht. Und ja: Auch Kiew muss bei der Umsetzung von Minsk seine Hausaufgaben machen.

Die Aussage des ukrainischen Außenministers, dass Kiew alle Vorgaben erfüllt, teilen Sie nicht?

Wir sehen, dass wir bei der Umsetzung der Minsker Abkommen feststecken. Kiew ist vor allem bei den politischen Vorgaben gefragt, wie dem Sonderstatusgesetz. Dazu gehört auch, keine Gesetze zu erlassen, die im Widerspruch zu den Minsker Vereinbarungen stehen. Das könnte ein Beitrag sein, damit wir weiter vorankommen.

Sie haben bekräftigt, dass es keine Waffenlieferungen geben wird. Wenn andere Verbündete genauso handeln würden, wäre die Ukraine dann nicht in einer sehr prekären Sicherheitslage?

Jeder Staat hat das Recht auf Selbstverteidigung, auch die Ukraine. Und wenn andere Staaten bereit sind, Waffen zur Verteidigung zu liefern, ist es nicht an uns, das zu kritisieren. Aber ich halte es nicht für realistisch, mit solchen Lieferungen das militärische Ungleichgewicht umzukehren. Der beste Schutz ist, dass es zu keiner weiteren Aggression kommt. Und die stärkste Waffe, wenn man dieses Wort benutzen will, ist, dass wir geschlossen als Nato-Mitglieder, als EU-Staaten, als G7 deutlich machen, dass jede neue Aggression massive Konsequenzen hätte.

US-Präsident Joe Biden hat auf Meinungsverschiedenheiten in der Nato hingewiesen, wie man auf eine Aggression Russlands unterhalb einer umfassenden Invasion reagieren würde. Wie weit ist es her mit der immer wieder beschworenen Geschlossenheit und von welcher Schwelle an treten Ihrer Auffassung nach die angedrohten schweren Konsequenzen ein?

Ich sehe unter den Partnern keinen Dissens in dieser Frage. Wir sind uns völlig einig, dass jede neue Verletzung der ukrainischen Grenzen schwere Konsequenzen hätte. Deswegen haben wir eine lange Liste von Handlungsoptionen identifiziert, gerade weil wir auf unterschiedliche Szenarien eingestellt sein müssen, von Sabotageakten bis zur Ausschaltung von kritischer Infrastruktur. 2014 hat uns die Taktik niedrigschwelliger Eskalation und hybrider Angriffe kalt erwischt. Heute sind wir darauf vorbereitet.

Sie haben Ihre ablehnende Haltung zu Waffenlieferungen auch begründet mit der historischen Verantwortung Deutschlands. Stehen wir nur bei Russland in der Pflicht?

Wir stehen allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion gegenüber in der Pflicht, weil wir in der Vergangenheit schlimmstes Leid über Millionen Menschen dort gebracht haben. Und deswegen ist es Raison deutscher Außenpolitik, alles für Frieden und Sicherheit in Europa zu tun. Im 21. Jahrhundert ist militärische Abschreckung dabei aber nur ein Mittel. In einer vernetzten Welt kann die Möglichkeit, ein Land von internationalen Lieferketten abzuschneiden oder den Zahlungsverkehr einzuschränken, viel größere Wirkung entfalten als Waffen zu liefern.

Aus der deutschen Politik gibt es die Forderung, Russlands Beteiligung am Zahlungssystem Swift, mit dem Banken ihre Transaktionen abwickeln, nicht anzutasten.

Die Abkopplung des gesamten Zahlungsverkehrs wäre vielleicht der dickste Knüppel, aber nicht unbedingt das schärfste Schwert. Wir schauen uns als westliche Staaten sehr genau an, welche intelligenten Wirtschafts- und Finanzsanktionen tatsächlich die russische Wirtschaft und Führung treffen würden und nicht als Bumerang vor allem uns selbst. Darüber besteht zwischen meinem amerikanischen Kollegen Tony Blinken und mir absolute Einigkeit.

Können Sie verstehen, dass die Haltung Ihrer Regierung und die zahlreichen Äußerungen aus der Koalition zur umstrittenen russischen Gaspipeline Nord Stream 2 in Osteuropa erhebliche Zweifel wecken, ob Berlin zu den angekündigten harten Konsequenzen wirklich bereit ist?

Sowohl der Bundeskanzler als auch ich haben klargemacht, dass bei einer weiteren militärischen Eskalation jegliche Mittel und Maßnahmen auf dem Tisch liegen. Und dazu zählt auch Nord Stream 2.

Im Koalitionsvertrag spiegelt sich die bekanntermaßen kritische Haltung der Grünen zu Nord Stream 2 nicht wider. Haben sich die Grünen über den Tisch ziehen lassen von einer SPD, die bei diesem Thema noch ganz im Sinne Gerhard Schröders tickt?

Ganz im Gegenteil. Im Koalitionsvertrag steht klar und deutlich, dass für Energieprojekte in Deutschland, und dazu zählt Nord Stream 2, das europäische Energierecht gilt. Dass der Zertifizierungsprozess bei der Bundesnetzagentur jetzt ausgesetzt ist, ist das Ergebnis dieser Festlegung, die in der Vergangenheit nicht immer alle geteilt haben.

Müsste Deutschland nicht, um der wachsenden Abhängigkeit von Russland zu begegnen, die Infrastruktur für Flüssiggas ausbauen?

Zunächst: Es ist eine Mär, dass wir künftig mehr Gas brauchen - wir haben einen gleichbleibenden Bedarf für eine Übergangszeit. Die Abhängigkeit von fossilem Gas steigt nur dann, wenn man den Ausbau der erneuerbaren Energien nicht entschieden vorantreibt. Deswegen ist der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht nur Klimaschutz, sondern mittlerweile eine zentrale Sicherheitsfrage. Für den Übergang bis zu einer klimaneutralen Energieversorgung müssen wir uns aber definitiv weniger abhängig machen von Russland. Da hat die Vorgängerregierung nicht genug getan. Für uns ist allerdings klar: Energiesicherheit und Klimaschutz müssen Hand in Hand gehen. Deshalb haben wir uns als neue Bundesregierung darauf verständigt, dass jegliche neue Infrastruktur für Wasserstoff nutzbar sein und spätestens Mitte der 2040er-Jahre darauf umgestellt werden muss.

Noch einmal zurück zum Verhältnis zwischen der Nato und Russland. Der Kreml beharrt darauf, dass sich Russland durch die Nato bedroht fühlt. Sie sagen, dass Sie das nicht teilen, aber können Sie es nachvollziehen?

Einer der interessantesten Punkte meines Besuchs in Moskau waren die Gespräche mit gesellschaftlichen Akteuren. Die größte Sorge der Bevölkerung ist, dass Russland wieder in einen Krieg verwickelt wird; 70 Prozent teilen sie laut Umfragen. Da sieht man, dass es wichtig ist, in der Außenpolitik zwischen Regierungen und der Gesellschaft zu unterscheiden. Während 2014 noch viele Menschen in Russland das militärische Vorgehen eher positiv bewertet haben, ist jetzt das Gegenteil der Fall.

Ich versuche gerade im Dialog meinen Beitrag zu leisten, dass dieses Verständnis - nämlich, dass die größte Gefahr für die Sicherheit Russlands eine weitere militärische Eskalation wäre - auch die russische Regierung erreicht. Wenn mir meine Großeltern, die den Krieg noch erlebt haben, eines mitgegeben haben, dann, dass Frieden das Allerwichtigste ist.

Dennoch: Moskau wähnt sich bedroht durch die Osterweiterung der Nato.

Es gab eine Verständigung in Europa, auch mit Russland, dass jedes Land ein Bündnis frei wählen kann. Einige osteuropäische Länder haben die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gewählt oder auch in der Nato als Verteidigungsallianz. Andere Länder haben die von Russland angeführte Organisation für kollektive Sicherheit gewählt. Wenn Mitgliedschaften innerhalb der Nato als Gefahr gesehen werden, müsste ich ja auch die Mitgliedschaft im russischen Bündnis als Bedrohung sehen. Das habe ich dem russischen Außenminister auch gesagt. Deswegen ist für mich zentral, dass wir mehr militärische Transparenz anstreben, etwa bei Manövern, und dass wir wieder über wechselseitige Abrüstung reden, zum Beispiel im Nato-Russland-Rat.

Hat der Westen keine Fehler gemacht im Umgang mit Russland? Die Liste der Beschwerden ist ja lang, von Nato-Interventionen auf dem Balkan und in Libyen bis zur Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen.

Die Aufkündigung von Verträgen zur Rüstungskontrolle ist das Gegenteil von Sicherheit, aber wir haben auch die Stationierung von Raketen auf russischer Seite gesehen, die dazu geführt haben. Das bedeutet eine Schwächung der Sicherheit für alle Seiten. Genau deshalb ist ja einer unserer Vorschläge, endlich wieder über Rüstungskontrollverträge, aber eben auch über Sicherheitswahrnehmungen zu sprechen. Die Grundlagen dafür sind die Charta der Vereinten Nationen, die KSZE-Schlussakte von Helsinki, die Charta von Paris und das Verständnis, dass die Androhung von Gewalt nicht als Mittel der Politik eingesetzt werden kann und die Souveränität jedes einzelnen Staates gilt.

Wenn man die Wortmeldungen der vergangenen Tage nimmt, träumen einige aus der SPD zumindest perspektivisch von einer Welt ohne die Nato. Träumen Sie da mit?

Eine Welt ohne Krieg, ohne Waffen und damit auch ohne Militär wäre die perfekte Welt. Aber davon sind wir leider noch weit entfernt. Wir erleben leider, dass es weltweit nicht nur militärische Bedrohungen durch andere Staaten nach wie vor gibt, sondern auch schwerste Verbrechen gegen die eigene Zivilbevölkerung. Ob ich die perfekte Welt noch erleben werde, daran mag ich zweifeln. Aber deswegen ist auch Abrüstung eines der zentralen Themen für mich als neue Ministerin. Wir wollen Rüstungsexporte besser kontrollieren und treiben Vorschläge voran, um auch im Bereich der nuklearen Abrüstung zu einer sichereren Welt zu kommen.

Litauen wird gerade massiv von China unter Druck gesetzt, weil es seine Beziehungen zu Taiwan ausgebaut hat. Warum tut Deutschland nicht mehr, um Litauen den Rücken zu stärken gegenüber diesem übermächtigen Land, das die engen wirtschaftlichen Verflechtungen als Druckmittel nutzt?

Das Wichtigste ist für Litauen - darüber habe ich mit dem litauischen Außenminister vergangene Woche gesprochen -, dass europäische Unternehmen sich nicht aus Angst vor China aus dem Land zurückziehen. Die chinesischen Repressalien sind ja gar nicht nur darauf gerichtet, dass litauische Unternehmen nicht mehr exportieren können. Es war der Versuch, Europa zu spalten und andere Länder davon abzuhalten, in Litauen zu produzieren. Und genau diese Rechnung ist nicht aufgegangen, weil wir als Europäische Union und Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land deutlich gemacht haben, dass man nicht ein Land in Europa ausschließen kann.

Das zeigt, wie wichtig das gemeinsame Agieren im europäischen Binnenmarkt ist. Ich bin sehr froh, dass wir in der EU gerade einen wirtschaftspolitischen Schutzschild gegen derartige Zwangsmaßnahmen auf den Weg bringen. Ich habe auch im Gespräch mit dem chinesischen Außenminister klargemacht, dass im Verhältnis zwischen Europa und China Erpressung kein Mittel sein kann.

Angela Merkel hat stark an einem Investitionsabkommen mit China gearbeitet. Hat sich das erledigt?

Solange China Abgeordnete des Europäischen Parlaments sanktioniert, ist das Abkommen eine Farce. Zudem habe ich auch inhaltliche Bedenken dagegen - zum einen weil es das Prinzip der Gegenseitigkeit nicht erfüllt, also keine Chancengleichheit für europäische und chinesische Unternehmen herstellt. Zum anderen, weil die Einhaltung der Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) nicht nur versprochen, sondern auch gewährleistet werden muss, gerade mit Blick auf das Verbot von Zwangsarbeit.

Frau Baerbock, eine persönliche Frage zum Schluss: Schauen Sie noch auf Twitter? Von Ihrer Reise nach Moskau in einer sehr schwierigen Zeit bleibt da im Ergebnis oft nur ein Versprecher in der Pressekonferenz. Ärgert Sie das? Oder nehmen Sie die sozialen Netzwerke gar nicht mehr wahr?

Wenn ich mir über Hashtags zu Verhasplern oder meinen Mänteln Gedanken machen würde, hätte ich den falschen Beruf gewählt - oder zu viel Zeit.

Interview: Daniel Brössler und Paul-Anton Krüger

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