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60. Jahre Élysée-Vertrag: Rede von Außenministerin Annalena Baerbock im Bundestag
Als ich letzte Woche in Äthiopien mit meiner französischen Amtskollegin, Catherine Colonna, war, da war das vor Ort etwas Neues: zwei Außenministerinnen zusammen.
Für unser Protokoll war es eine riesige Herausforderung, wer wann in welchem Wagen zuerst fahren durfte; aber mit Blick auf die eigentlichen Gespräche war es das Einfachste, was ich als Außenministerin machen kann, weil das Gespräch auch komplett meine liebe Kollegin Catherine Colonna hätte führen können. So konnten wir uns in unseren Gesprächen, sei es beim World Food Programme, bei der Afrikanischen Union oder auch beim Ministerpräsidenten immer gegenseitig ergänzen, aushelfen, wir konnten einspringen und unsere Argumente untermauern.
Das klingt ganz logisch und selbstverständlich. Warum erzähle ich es? Weil es eben vor Jahrzehnten alles andere als eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre. Da wären die deutsche Außenministerin und die französische Außenministerin keineswegs zusammen gereist; gut, als Frauen schon mal gar nicht, aber auch nicht als Männer. Es ist ein Wunder, und wir können als nachfolgende Generationen dankbar dafür sein, dass wir dies heute gemeinsam als Partner, als Freunde und vor allen Dingen als Europäerinnen und Europäer tun können.
Diese Partnerschaft zwischen Deutschland und Frankreich mag uns selbstverständlich vorkommen; aber wir sollten gerade heute daran erinnern, dass diese Freundschaft nicht vom Himmel gefallen ist. Als Konrad Adenauer und Charles de Gaulle vor 60 Jahren, im Januar 1963, den Élysée-Vertrag unterzeichneten, taten sie dies im Bewusstsein der dunkelsten Kapitel der europäischen Geschichte, im Bewusstsein der Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten. Sie wussten, wie tief klaffend die Wunden des Zweiten Weltkriegs bei den Menschen in Europa immer noch waren und dass es gegen die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich durchaus Vorbehalte gab, und zwar in beiden Ländern. Aber sie setzen sich trotzdem dafür ein. Und auch das war keine Selbstverständlichkeit. Ich glaube fast, das ist mit das Wichtigste, woran wir uns heute, 60 Jahre später, erinnern sollten: dass Aussöhnung immer auch mutige Staatsmänner damals und heute Staatsfrauen braucht, die trotz des Widerstands in ihren eigenen Ländern den Mut haben, diesen Schritt der Versöhnung zu gehen.
Das galt damals natürlich noch viel mehr für die französische Seite.
Sie aber wussten, dass die Freundschaft zwischen unseren Ländern der Schlüssel zu Frieden in Europa ist. Ich bin deswegen dankbar, dass unser wichtigster Nachbar heute zugleich unsere beste Freundin ist. Dieses Vertrauen ist unendlich kostbar, und es ist Auftrag, ein Auftrag, der sich nicht nur aus der Geschichte ableitet, sondern auch ein Auftrag der Menschen in unseren beiden Ländern ist, die wir als Politikerinnen und Politiker, als Ministerinnen und Minister repräsentieren. Laut einer aktuellen Ipsos-Umfrage sind 81 Prozent der Menschen in Deutschland und Frankreich der Meinung, dass der deutsch-französische Motor für die Zukunft der Europäischen Union wichtig ist. Das zeigt, wie hoch die Erwartung an uns als Politikerinnen und Politiker ist, diese Zusammenarbeit, diese Partnerschaft jetzt gerade zu stärken.
Das tun wir - als Bundesregierung, aber gerade auch als Parlamente. Mit dem Élysée-Vertrag haben wir den Grundstein für die Aussöhnung unserer Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt. Mit dem Vertrag von Aachen haben wir unsere Freundschaft in europäischen Fragen gestärkt und zum Kern unserer gemeinsamen europäischen politischen Identität gemacht.
Aber unsere Freundschaft geht weit über Verträge hinaus. Millionen von Menschen in Deutschland und Frankreich füllen diese Verträge jeden Tag mit Leben. Das tun auch ganz viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihren Wahlkreisen vor Ort, als Abgeordnete, aber gerade auch als Bürgerinnen und Bürger, mit Städtepartnerschaften, mit Austauschprogrammen für Schülerinnen und Schüler, in der Deutsch-Französischen Parlamentariergruppe oder in der Parlamentarischen Versammlung.
Auch wir als Bundesregierung investieren in diese Freundschaft jeden Tag. Mit keinem anderen Land haben wir so enge Beziehungen wie mit Frankreich. Mit keinem anderen Land stimmen wir uns so eng ab. Das ist gerade jetzt bitter nötig; denn wir erleben erneut, wie unser Leben, wie unsere Freiheit, wie unser Frieden herausgefordert wird. Auf Russlands brutalen Angriffskrieg haben wir deswegen gemeinsam vom ersten Tag an eine geschlossene Antwort gegeben: in der EU, der NATO, der G 7 und den Vereinten Nationen.
Diese enge und geschlossene Gemeinschaft ist auch dem engen und guten Draht zwischen Paris und Berlin zu verdanken. Und das geht weit über die Antwort auf den brutalen russischen Angriffskrieg hinaus. Das gilt auch für die Eindämmung der Klimakrise. Gerade auf der letzten Klimakonferenz haben unsere beiden Länder Europa vorangetrieben. Wir machen uns gemeinsam Gedanken darüber und arbeiten an technischen Lösungen, wie wir die Emissionen weiter verringern können. Wir schaffen mit der Green Economy einen globalen Wettbewerb, um uns als Europäer ganz vorne zu positionieren. Und wir stärken unsere europäische Wirtschaft dadurch, dass wir zusammen an der grünen Transformation arbeiten.
Und ja, wir sprechen auch mal über Dissens; denn das macht wahre Freundschaft aus. Wahre Freundschaft bedeutet doch gerade nicht, dass man immer komplett einer Meinung ist, sondern wahre Freundschaft bedeutet, dass man sich, gerade wenn man ganz unterschiedlicher Meinung ist, in den anderen hineinversetzt, in seinen Schuhen läuft. Wahre Freundschaft bedeutet, anzuerkennen, dass der andere auch mal recht haben kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerade heute, 60 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages zwischen Deutschland und Frankreich sollten wir das genau so tun. Wir sollten immer wieder bereit sein, uns in den anderen hineinzuversetzen, in seinen Schuhen zu laufen; denn unsere Partnerschaft ist nicht vom Himmel gefallen. Wir müssen jeden Tag in die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich investieren, mit persönlichen Begegnungen, mit konkreten Projekten, vor allem aber mit ganz viel Herzblut; denn unsere Freundschaft bleibt der Schlüssel für Frieden in Europa. Vive l’amitié franco-allemande! Vive l’Europe!