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Rede von Außenministerin Annalena Baerbock zum Nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt
Der Breitscheidplatz in Berlin.
Die Arena-Bar in Hanau.
Die Synagoge in Halle.
Orte, die sich in unser öffentliches Bewusstsein gebrannt haben. Orte von Terror und Gewalt, gerichtet gegen eine ganze Gesellschaft.
Und so unterschiedlich diese Fälle sind, sie haben auch eines gemeinsam. In Deutschland, aber auch in anderen Teilen der Welt, tendieren wir manchmal dazu, uns auf die Täter zu fokussieren. Ihre Motive, ihre Ideologien, ihre Biographien. Weil das wichtige Fragen sind, gerade für unser aller Sicherheit.
Doch der Fokus auf die gewalttätigen Ideologien, die diese Taten antreiben, darf uns niemals den Blick verstellen für das, wofür wir als Gesellschaft in alle Ewigkeit Verantwortung tragen. Für die Opfer dieser Anschläge, für die Überlebenden, die Hinterbliebenen. Und gerade auch für ihre Familien, für ihren Schmerz. Aber auch für ihre Stärke und ihren Mut zum Weiterleben.
Denn Weiterleben erfordert unendlich viel Stärke. Und es erfordert erst recht Stärke, den Opfern, den ermordeten Liebsten, immer wieder und weiter eine Stimme zu geben. Eine Stimme, die für die Familien eine Selbstverständlichkeit sind. Aber die auch für uns als Gesellschaft überlebenswichtig ist.
Und zwar nicht nur an Gedenktagen wie dem heutigen Tag am 11. März, sondern auch an all den anderen Tagen im Jahr.
Denn Ziel von Terror ist es, gerade dieses Leben, die bunten Stimmen, die Vielfalt eines Landes, einer Gesellschaft zu zerstören. Es ist nicht nur die einmalige und furchtbare Tat, die Menschen auf ihrem Leben reißt. Sondern es geht um Verunsicherung und Zerstörung auf Dauer. Es geht darum, dass Menschen nicht mehr zusammenkommen und nicht mehr das Leben feiern, auf Weihnachtsmärkten oder Stadtfesten. Es ist ein Angriff auf einzelne Personen, aber gezielt auf unsere Gesellschaft als Ganzes.
Daher ist es so wichtig, dass wir nach den Tagen, nach den Wochen der Trauer, das Weiterleben, das Zusammenleben erst recht stärken. Und daher ist auch dieser Gedenktag so wichtig. Ein Gedenktag, der international von Bedeutung ist.
2011 überfiel ein rechtsextremer Terrorist im norwegischen Utøya ein Sommercamp mit 500 jungen Menschen. Der Ort war kein Zufall. Junge Menschen kamen dort zusammen, um gemeinsam über die Zukunft ihres Landes zu sprechen. 77 von ihnen wurden ermordet.
Eine Vertreterin der Hinterbliebenen, Lisbeth Røyneland, sagte bei der Gedenkfeier der Hinterbliebenen in Oslo vor zwei Jahren, wo wir als NATO-Außenminister zu Gast waren: „Ich bin eine unfreiwillige Expertin. Mit Wissen und Kompetenzen, die ich nie haben wollte.“
Sie gab mir einen Anstecker mit dem Symbol, mit dem sich die Überlebenden und die Familien seitdem weltweit vernetzten. Ein goldenes Herz, das den Umriss der Insel Utøya umschließt. Und genau dieses goldene Herz, dieses gemeinsame Trauern weltweit, ist auf tragische Weise dann gerade vor kurzem hier in Berlin wieder zusammengekommen. Nämlich kurz nach Weihnachten in der Gedächtniskirche in Berlin, in Gedenken der Opfer von Magdeburg. Wo die Angehörigen, die Hinterbliebenen der Opfer des furchtbaren Anschlags vom Breitscheidplatz ihre Angehörigen gedachten. Und die Haltung dahinter war dieselbe wie in Oslo vor zwei Jahren: wir wollten nie hier sein. Wir wollten dieses Wissen, diese Kompetenz nie bekommen. Aber wir sind da für die Angehörigen, die Hinterbliebenen, jetzt und gerade jetzt.
Im Zentrum stand auch in der Gedächtniskirche, wie an vielen anderen Orten, das Miteinander, das füreinander Einstehen. Die Kraft der Hinterbliebenen, die uns als Gesellschaft dort deutlich macht: es geht darum, das Weiterleben, das Zusammenleben zu sichern.
„Ich bin eine unfreiwillige Expertin.“
Viele von ihnen sind unfreiwillige Experten. Daher danken wir Ihnen umso mehr, dass Sie nicht nur heute hier sind, sondern dass Sie als Hinterbliebene uns Ihr unfreiwilliges Wissen weitergeben und als Gesellschaft stärken. Dass wir als Gesellschaft, aber gerade auch wir als Politikerinnen und Politiker von Ihnen etwas lernen können.
Nicht nur die Stärke des Überlebens, des Weiterlebens. Sondern auch die Stärke der Vernetzung, des Zusammenstehens in der Trauer und vor allen Dingen, was es bedeutet und wie es gelingen kann, sich in all dieser Trauer nicht spalten zu lassen, nicht die eigene Menschlichkeit zu verlieren.
Gemeinsam als Gesellschaft dafür zu sorgen, dass das Drehbuch des Terrorismus nie aufgehen wird. „Niemals leise zu sein und niemals zu vergessen“. Das ist die Antwort, die Lisbeth Røyneland dafür hat, dass das Drehbuch des Terrorismus nicht weitergeht. Dafür danken wir Ihnen. Diejenigen, die heute hier sind, aber auch den vielen, vielen anderen in unserem Land, über deren Liebste nicht groß in den Zeitungen berichtet worden ist.
Ihnen ist der heutige Tag gewidmet.
Und natürlich sind wir angesichts der jüngsten furchtbaren Anschläge ganz besonders in Gedanken bei den Betroffenen und bei denjenigen, deren Wunden noch zu frisch sind, als dass sie bald verheilen werden. In Solingen, in Magdeburg, in Aschaffenburg, in München und zuletzt erneut in Mannheim. Bei all denjenigen, deren Familien weniger Aufmerksamkeit geschenkt worden ist.
Ja, und ich möchte daher auch an dieser Stelle mit Blick auf den jüngsten Anschlag erneut in Mannheim sagen: das Leid der Opfer, der Hinterbliebenen, der Überlebenden, das dürfen wir niemals daran bemessen, wo der Täter geboren wurde, oder wie oft dieser furchtbare Terroranschlag in der Zeitung stand.
In liberalen Gesellschaften kann es nie absoluten Schutz geben.
Aber zugleich ist es als Staat, der das Gewaltmonopol innehat, unsere oberste Pflicht, alles für den Schutz zu tun, und zwar aller Menschen, unabhängig ihrer Herkunft. Und da, wo das nicht gelungen ist, wo wir Fehler gemacht haben, wo wir weiter lernen müssen, gilt es auch in dieser Verantwortung das offen und klar zu benennen. Immer wieder zu reflektieren, als lernende, freie Gesellschaft, wo unsere Behörden besser hätten kooperieren können. Wo in Zukunft unsere Prozesse besser gestaltet werden müssen. Wo wir auch in einer digitalisierten Welt, in der Hass und Hetze um sich greifen, die Digitalisierung für unsere Sicherheit besser nutzen können. Vor der Tat, aber auch danach.
Und dieser Pflicht stellen wir uns als Bundesregierung. Dieser Gedenktag, der in Rotation in den verschiedenen Bundeministerien stattfindet, ist ein Ausdruck dieser Verantwortung, der wir uns gemeinsam als Gesellschaft stellen. Gerade nicht, weil es einfacher ist, mit dem Finger auf andere zu zeigen.
In einem freien Land, in einer freien demokratischen Republik können wir für bestmögliche Sicherheit nur gemeinsam sorgen. Als Bund, Länder und Kommunen, aber auch nur gemeinsam als Bevölkerung von über 84 Millionen Bürgerinnen und Bürgern. Bürgerinnen und Bürger, die nicht wegschauen, die sich Hass und Hetze und am Ende dem Ziel von Terrorismus entgegenstellen.
Menschen in unserem Land haben dafür ihr Leben gegeben. Sie waren bereit, ihr Leben zu opfern, für unsere freie Gesellschaft, um andere zu schützen. Wie ein Polizist in Mannheim, ein Familienvater in Aschaffenburg und letzte Woche ein Taxifahrer, erneut in Mannheim.
Dieses Einstehen, das braucht es von uns allen, gerade in den viel einfacheren Situationen. Im Bus, wenn gehasst und gehetzt wird. Im Internet, in der Schule, im Büro, auf der Straße.
Auch das bedeutet dieser Gedenktag. Er ist verpflichtend für uns alle. Füreinander einzustehen. Wenn das Ziel von Terrorismus die Spaltung der Gesellschaft ist, dann ist unsere stärkste Antwort das Miteinander, die Menschlichkeit.
Islamisten und Rechtsterroristen sind Brüder im Geiste. Deswegen verläuft die Trennlinie beim Kampf gegen den Terror auch nicht entlang des Geburtsortes, sondern allein entlang der Frage, ob man auf der Seite der Menschlichkeit, der freien Gesellschaft und ihres Schutzes steht– oder ob man genau das angreifen will.
Und daher funktioniert der Kampf gegen den Terrorismus auch niemals allein. Nicht allein als eine Behörde, nicht allein als ein Bundesland, aber auch nicht alleine im nationalen Raum. Sondern am besten, und das ist auch das Zeichen aus Norwegen, im internationalen Zusammenspiel.
In Zeiten der Digitalisierung des 21. Jahrhunderts vernetzt sich der Terror weltweit. Er macht nicht Halt an Grenzen. Und daher ist unsere Antwort eine weltweite, eine internationale Sicherheitsvernetzung. Für uns als Auswärtiges Amt, das dieses Jahr hier Gastgeber ist, bedeutet das auch, die internationale Zusammenarbeit auszubauen, andere Gesellschaften beim Kampf gegen den Terror zu unterstützen.
Denn wir haben erlebt: wenn sich islamistische Terrorzellen wie Boko Haram und gerade auch der IS direkt in unserer Nachbarschaft ausbreiten, dann kommt der Terror irgendwann auch nach Europa. Daher ist die Unterstützung anderer Länder im Kampf gegen Terrorismus auch unser bester Selbstschutz. Ich habe dies in Cote d'Ivoire gesehen, wo wir, als Deutschland ein Antiterrorzentrum in Abidjan fördert. Und es immer wieder Diskussionen gibt: warum machen wir das mit unseren Geldern im Ausland? Aber nicht nur dort, in Cote d'Ivoire, sondern auch in Nigeria, in Mali, in Niger und ja, auch im Nahen und Mittleren Osten, im Irak oder Syrien erleben wir doch, dass Terroristen insbesondere dort rekrutieren, wo sich Perspektivlosigkeit ausbreitet, wo Menschen die eigenen Kinder nicht mehr ernähren können. Wo Milizen durch Dörfer streifen, um Jugendliche für Terrormilizen zu gewinnen.
Daher ist nicht nur unsere gemeinsame Unterstützung bei der Terrorbekämpfung vom Innenministerium und Außenministerium unser bester Selbstschutz, sondern auch die Stärkung von wirtschaftlichen Perspektiven. Die humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit sind zentral für die Bekämpfung des globalen Terrorismus.
All das ist eben keine Frage von „Charity“, sondern gehört zu einem erweiterten Begriff unserer Sicherheit dazu. Denn Sicherheit können wir in einer vernetzten Welt nur integriert und als erweiterte Sicherheit denken. Das heißt auch, zivile Instrumente, polizeiliche und militärische Aufgaben zu verbinden. Daher bin ich den Kolleginnen und Kollegen der unterschiedlichen Ressorts, aber insbesondere dem Bundesinnenministerium, dir, liebe Nancy Faeser, so dankbar, dass wir gerade das in diesen krisenhaften Zeiten gemeinsam, auch mit Blick auf die Krisenprävention weiter ausgebaut haben.
Meine Damen, meine Herren, Sie alle, uns alle eint Schmerz und Trauer über das Geschehene. Für uns als Gesellschaft, uns als Regierung, auf Landes- und auf Bundesebene erwächst aus diesem Schmerz aber eine Verantwortung. Eine Verantwortung, im Gespräch zu bleiben.
Und daher herzlichen Dank an diejenigen, die seit Jahrzehnten mit diesem Schmerz leben müssen und ihre Erfahrungen weitergeben.
Eine Verantwortung, Versäumnisse aufzuarbeiten und als freie und lernende Gesellschaft immer wieder aus dieser „unfreiwilligen Expertise“ zu lernen. Um dann zu handeln, in Prävention zu investieren.
Weil unser schonungsloser Blick auf die Täter niemals unseren Blick auf die Perspektiven der Opfer verstellen darf. Auf diejenigen, um die es heute hier geht: Kinder, Väter, Mütter, Schwestern, Brüder, Freundinnen und Freunde.
Keine abstrakten Zahlen von terroristischer Gewalt, sondern Menschen wie Sie und wir. Ihre, unsere Liebsten.
Wir geben den Opfern heute eine Stimme. Aber nicht nur heute, nicht nur am 11. März, sondern jeden Tag des Jahres.