Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
Rede von Außenministerin Annalena Baerbock in der Nikolaikirche Potsdam anlässlich des dritten Jahrestages der russischen Vollinvasion der Ukraine
Ich glaube, uns allen ging es gerade ähnlich, als wir bei den Klängen gerade die Augen geschlossen haben, insbesondere bei dem Lied, das Sie, liebe Kateryna Suprun, anmoderiert haben: „Maria’s City“, von Soltan Alamschy. Ein Lied über Mariupol.
Mir persönlich sind beim Augenschließen ganz viele Bilder durch den Kopf gegangen. Ich bin in den letzten drei Jahren zehn Mal in der Ukraine gewesen und habe so viel von ihrem Land lernen und sehen dürfen: diese Kornfelder, die eigentlich mal blühten und die ganze Welt mit Nahrungsmitteln und Lebensmittel versorgten. Das fröhliche Leben und dieser Reichtum an Kunst und Kultur. Aber eben auch, jetzt seit drei Jahren, die Zerstörung dieses Reichtums und dieses Schatzes, dieser europäischen Geschichte und gerade auch der Stadt Mariupol.
Ich bin nur wenige Tage bevor vor drei Jahren dieser brutale russische Angriffskrieg die ganze Ukraine erfasste in der Stadt gewesen, in Mariupol. Ich bin von dort aus um 5 Uhr morgen zur Kontaktlinie gefahren, die damals noch Kontaktlinie hieß. Die Nacht zuvor hatte ich in einem Hotel verbracht, in Mariupol, ein ganz hoher Turm. Und als ich dann wenige Monate später genau diesen Turm zerstört in den Nachrichten sehen musste, konnte ich meine Gedanken gar nicht in Worte fassen.
Ich hatte kurz vorher als deutsche Außenministerin am 24. Februar zu Ihnen allen als Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Worte gesprochen: wir sind in einer anderen Welt aufgewacht. Und diese Welt bedeutet für unseren Kontinent, auf dem wir eigentlich als heutige Generation glaubten, das größte Glück zu haben, für immer in Frieden zu leben, dass der Traum, „Mriya“, der Traum vom ewigen Frieden, leider keine Selbstverständlichkeit ist.
Vor drei Jahren in einer anderen Welt aufgewacht zu sein, heißt vor allen Dingen für viele Menschen in der Ukraine, für erfolgreiche Musikerinnen wie Kateryna Suprun, ihre Heimat verlassen zu müssen. Es heißt für Kinder aus dem Osten der Ukraine, verschleppt worden zu sein. Es heißt drei Jahren Drohnen- und Raketenterror. Und es heißt vor allem auch, daran haben sie mit ihrer Musik und mit Ihren Worten erinnert: drei Jahre Angriffe auf Kunst und Kultur. Es heißt, dass insbesondere Orte getroffen worden sind wie Odesa: Theater, Museen, Bibliotheken, gerade auch Kirchen. In einer dieser Kirchen stand ich auch vor einiger Zeit, in Odesa. Bei dem Blick hier in die Kuppel dieser Kirche erinnerte ich mich daran, wie in der Verklärungskathedrale von Odesa ungefähr in dieser Dimension ein riesiges Loch in den Himmel klaffte. Und diese Kirche ist ganz bewusst getroffen worden, mit ihrem Orgelspiel, mit ihren Klängen, mit ihrer Musik.
Dass sie als Orchester hier in Potsdam und Berlin eine zweite Heimat gefunden haben, ist für uns eine große Ehre. Deswegen haben wir als Bundesrepublik, als Stadt und Land, der Herr Oberbürgermeister und die Präsidentin des Landtags sind heute beide hier vertreten, den Aufbau des Orchesters mit unterstützt. Deswegen schützen wir Bücher, die aus Bibliotheken gerettet werden konnten, Gemälde aus Museen. Um diese Kunst vor der Zerstörung zu retten. Aber sie gehört nicht hierher zu uns, sie gehört zurück in die Ukraine.
Ein anderes Orchester hat vor zwei Wochen auch gespielt, in einem Fußballstadion, beim FC Freiburg. Aber die Musiker konnten leider nicht vor Ort sein. Sie sind in ihrem Land geblieben, in Lwiw und haben per Internetübertragung aus dem Luftschutzkeller gespielt. Eine Hymne. Eine Hymne, nicht von Bach oder andere großartige Werke, die wir heute gehört haben, sondern eine Fußballhymne, die weltbekannte Fußballhymne “You'll never walk alone”. Walk on, walk on, with hope in your heart.
Und es passt zu dem Werk von Soltan Almaschy, das Mariupol gewidmet ist. Die Hoffnung, bei allem Schmerz. Und das ist das, was wir hier heute, danke daher auch an die Nikolaikirche, mit dieser Gedenkveranstaltung deutlich machen wollen: Es ist der Traum von Frieden, für den wir weiter alle einstehen. Es ist der Traum, wie euer Orchester heißt, „Mriya“. Es ist das “walk on, walk on, with hope in our hearts”.
Was wir vor drei Jahren mit der Zeitenwende als Bundesrepublik Deutschland deutlich gemacht haben, dass wir die Ukraine unterstützen, nicht nur beim Schutz ihrer Kultur, ihrer Kunst, ihrer Musik, sondern natürlich ihrer Menschen. Ihrer Menschen, die genauso wie wir hier in Potsdam ein friedliches Leben gelebt haben. Und wir haben in diesen drei Jahren natürlich in einer freien Demokratie auch immer wieder Diskussionen gehabt, über diese Unterstützung. Nicht nur humanitär, nicht nur kulturell, nicht nur in der Entwicklungszusammenarbeit, sondern gerade auch militärisch. Aber ich glaube, Tage, Abende wie heute verdeutlichen, umso mehr: wenn wir dort gewesen wären, was hätten wir uns gewünscht, was unsere europäischen Nachbarn für uns getan hätten? Die Augen davor zu verschließen, dass Raketen in unsere Nikolaikirche einschlagen? In Krankenhäuser oder in Schulen? Oder an der Seite der Menschen in der Ukraine zu stehen?
In der Bibel steht bei Jesaja im 32. Kapitel: „Nur Gerechtigkeit sorgt für Frieden, sie bringt Ruhe und Sicherheit für alle Zeiten“. Und daher war es uns so wichtig, und ist es für uns weiterhin so wichtig, auch nach drei Jahren, und jetzt erst recht, wo wir wieder eine Zeitenwende erleben, weil wir nicht wissen, wie die Unterstützung der US- Administration weitergehen wird. Dass wir deutlich machen, wie Jesaja sagt: Ein Frieden ist nur ein Frieden, um es in die heutige Zeit zu übersetzen, wenn es ein gerechter Frieden ist. Und einen gerechten Frieden kann es nur geben, wenn man zu keiner Täter-Opfer Umkehr kommt.
Wenn man deutlich macht: wir stehen an der Seite der freien Ukraine und ihrer Menschen. Neutralität, in einer Situation der brutalen Gewalt gegen unschuldige Opfer, bedeutet, die Gewalt zu unterstützen. Und daher kann ein gerechter Frieden nur bedeuten, dass es ein Frieden ist für ein freies Land, die Ukraine, über den die Ukrainer und die Europäer entscheiden.
Morgen gehen wir zur Wahl. Und wenn wir hier herausgehen und uns einmal umdrehen, dann sehen wir nicht nur das größte Glück, dass unsere Kuppel heil ist. Dass wir vor 35 Jahren unsere europäischen Nachbarn an unserer Seite hatten, damit Deutschland wiedervereint werden konnte im Herzen Europas, dass wir in Freiheit und Frieden leben dürfen. Sondern wir sehen auch, dass diese Freiheit und dieser Frieden, diese Demokratie unser größter Schatz ist. Sie machen am Portal der Nikolaikirche mit einem Plakat deutlich: „Wir haben die Wahl!“. Morgen haben wir die Wahl, diesen Schatz zu schützen. Unsere Freiheit und Frieden, unsere Demokratie. Gegen diejenigen, die sie zerstören wollen und auch unser Versprechen, das wir vor drei Jahren den Menschen in der Ukraine gegeben haben. Wir stehen an eurer Seite. You will never walk alone. Go on, with hope in your hearts. So lange es nötig ist werden wir für euch da sein.
Die Klänge von Mriya, der Traum vom Frieden. Der gehört allen.
Slawa Ukraini.