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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Videoansprache vor dem Konzert „Für Freiheit und Frieden. Ein Konzert der Berliner Philharmoniker in Schloss Bellevue“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht vor dem Konzert „Für Freiheit und Frieden. Ein Konzert der Berliner Philharmoniker im Schloss Bellevue“, © picture alliance/dpa | Annette Riedl
Schloss Bellevue, 27. März 2022
An diesem Sonntagmorgen begrüße ich Sie, liebe Gäste, Sie hier im Schloss Bellevue und alle, die von nah und fern jetzt zuschauen. Ich freue mich, dass die Berliner Philharmoniker unter der Leitung der wunderbaren Nodoka Okisawa gemeinsam mit Evgeny Kissin heute Morgen für uns spielen. Ich sage Intendantin Andrea Zietzschmann und allen Beteiligten schon jetzt meinen herzlichen Dank dafür, dass sie es in so kurzer Zeit möglich gemacht haben. Und ich bedaure umso mehr, dass meine Frau und ich wegen unserer Corona-Erkrankung nicht persönlich dabei sein können. Und wir bedauern beide, dass auch Kirill Petrenko wegen einer Erkrankung kurzfristig absagen musste. Ich weiß, wie gerne er heute Morgen dabei gewesen wäre. Wir wünschen ihm von hier aus baldige Genesung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder von Ihnen spürt schon jetzt, bevor der erste Ton erklungen ist, unter welcher Spannung dieses Konzert steht, oder anders gesagt: welche Gegensätze es zum Vorschein bringt.
Da ist dieser feierlich erleuchtete Saal, da sind Musikerinnen und Musiker und das Publikum, festlich gekleidet und in Vorfreude auf wunderbare Musik. Ein Bild der Harmonie, ein Bild ziviler Kultur, ein Bild von erfülltem sonntäglichen Frieden.
Und da ist auf der anderen Seite der Anlass für dieses Konzert: ein brutaler, völkerrechtswidriger und menschenverachtender Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Da ist der tapfere und erbitterte Kampf des ukrainischen Volkes um Freiheit und Selbstbestimmung. Da ist die Grausamkeit dieses Krieges, da sind die Toten und Verletzten, die immer blindwütigere Zerstörung, die gezielten Angriffe auf die Zivilbevölkerung.
Und da ist die millionenfache Flucht von Menschen, die unter russischem Raketenhagel ihre geliebte Heimat verlassen, meistens Frauen und Kinder, die ihre Männer, Söhne und Väter im Ungewissen zurücklassen müssen. Zehn Millionen Menschen, wenn nicht noch mehr, sind auf der Flucht. Allein dieses Leid ist eine Katastrophe, wie es sie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat.
Es sind furchtbare Tage und Wochen. Wir alle sind erschüttert, wir sind entsetzt über das, was in der Ukraine geschieht.
Viele in Deutschland möchten etwas tun, sie möchten ihrer Solidarität und ihrem Mitleid Ausdruck geben. Und viele tun das auch, ganz besonders in der Hilfe für Flüchtende, sei es durch Spenden, durch Unterstützung bei der Ankunft in Deutschland oder durch Aufnahme von Geflüchteten im eigenen Zuhause. Ich bin für all das sehr dankbar.
Aber da ist noch etwas: Viele Menschen, auch bei uns, haben Angst. Bei den Älteren treten tiefe, grauenvolle Erinnerungen hervor, bei den Jüngeren ein nie für möglich gehaltenes Erschrecken: Es herrscht Krieg in Europa. Eine atomar bewaffnete Großmacht will ein Nachbarland unterjochen und zerstören. Und das alles keine zwei Flugstunden von uns entfernt.
Ich verstehe die Ängste in unserem Land. Und einfach wegnehmen kann ich sie auch nicht. Das kann niemand. Aber wir können der Angst etwas entgegensetzen: unsere Wehrhaftigkeit und unsere Mitmenschlichkeit, unseren Willen zum Frieden und den Glauben an Freiheit und Demokratie, die wir niemals preisgeben, die wir immer verteidigen werden!
Ich weiß wohl: Der Glaube an Freiheit und Demokratie allein hält keinen Panzer auf. Aber ich weiß auch dies: Kein Panzer kann diesen Glauben jemals zerstören. Keine Armee, kein Unterdrückungsregime ist stärker als die Strahlkraft von Freiheit und Demokratie in den Köpfen und Herzen der Menschen. Nicht in der Ukraine, nicht bei uns, nirgendwo.
Nach meiner Wahl am 13. Februar habe ich gesagt: „“Herr Putin, unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie!„“ Heute wissen wir: Er hat sie unterschätzt. Er hat die Kraft, den Mut, die Freiheitsliebe der Ukrainerinnen und Ukrainer unterschätzt – und ebenso die Geschlossenheit und Entschlossenheit unserer Bündnisse, der Europäischen Union und der NATO.
Umso mehr, liebe Gäste, appelliere ich an uns selbst und an unsere Landsleute: Nicht auf die Angst, sondern auf das, was wir ihr entgegensetzen, auf die Stärke der Freiheit und der Demokratie können und müssen wir jetzt bauen! Wir wissen, wofür wir stehen, und wir wissen, was wir zu verteidigen haben. Unser Herz pocht heiß gegen das Unrecht dieses Krieges, und unser Kopf muss kühl sein im Erkennen unserer Verantwortung. Darum geht es jetzt.
Dieses Konzert heute, mit ukrainischer, polnischer und russischer Musik, es soll zuerst unsere Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und mit den Flüchtenden zum Ausdruck bringen. Das Fluchtschicksal hat auch der große ukrainische Komponist Valentin Silvestrov erleiden müssen, jetzt, im hohen Alter von 84 Jahren. Ich bin froh und dankbar, dass er heute hier ist und dass seine Musik gleich als erstes erklingen wird. Ein besonders herzliches Willkommen Ihnen, verehrter Valentin Silvestrov!
Dieses Konzert der Berliner Philharmoniker ist ein Zeichen für Freiheit und Frieden – ein gemeinsames Zeichen von Künstlerinnen und Künstlern, die aus Deutschland und der Ukraine, aus Russland und Belarus stammen. Ihre Haltung gegen diesen verbrecherischen Krieg, sie ist eine Frage von Menschlichkeit, nicht von Herkunft. Also: Hüten wir uns vor pauschalen Feindseligkeiten, und lassen wir uns nicht ein auf Putins pseudo-historischen, nationalistischen Wahn! Lassen wir nicht zu, dass aus Putins Hass ein Hass zwischen Völkern und zwischen Menschen wird, auch nicht in unserer eigenen Gesellschaft!
Bitte denken wir daran, wenn gleich, nach Silvestrov und Chopin, auch die Musik zweier großer russischer Komponisten erklingt, Tschaikowsky und Schostakowitsch – und wer übrigens wusste besser um das totalitäre Grauen im eigenen Land als Dmitri Schostakowitsch?
Und schließlich: Dieses Konzert kann und soll uns eine Ermutigung sein. Es kann und soll uns noch einmal neue Kraft geben. Kraft, die wir brauchen! Denn das Unrecht dieses Krieges geht uns etwas an, es kann und darf nicht ohne Antwort bleiben. Wir können nicht auf Abstand gehen und mit den Schultern zucken. Das spüren die allermeisten Menschen in Deutschland mit großer Klarheit und auch mit der Bereitschaft, Lasten zu tragen.
Nicht nur unsere humanitäre Solidarität ist gefordert. Sondern den tapferen Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer um ihr Land wird Deutschland mit seinen Verbündeten weiter unterstützen. Wir leisten Hilfe zur Verteidigung gegen diesen brutalen Überfall. Und wir haben scharfe Sanktionen verhängt, die Russland die Fortsetzung seiner zerstörerischen und menschenverachtenden Politik unmöglich machen sollen. Diese scharfen Sanktionen bringen unvermeidlich auch Unsicherheiten und Einbußen, auch für uns. Wir werden bereit sein müssen, sie zu tragen, wenn unsere Solidarität nicht nur Lippenbekenntnis sein, wenn sie ernst genommen werden soll.
Ja, es kommen auch auf uns in Deutschland härtere Tage zu. Tage, die die Welt verändern und die auch uns verändern – vielleicht schneller, als wir es für möglich gehalten hätten. Und die ganze Wahrheit ist: Viele Härten liegen erst noch vor uns. Trotz aller laufenden diplomatischen Bemühungen um eine Beendigung des Krieges: Unsere Solidarität und unsere Unterstützung, unsere Standhaftigkeit, auch unsere Bereitschaft zu Einschränkungen werden noch auf lange Zeit gefordert sein.
Verlieren wir dennoch nicht unsere Zuversicht. Vielleicht hilft uns in den schweren Wochen, die bevorstehen, die Erinnerung daran, was der große, in Kiew geborene Humanist Lew Kopelew vor vier Jahrzehnten in seiner Friedenspreis-Rede gesagt hat: „[…] Menschen guten Willens gibt es gewiss in allen Ländern der Welt, Menschen verschiedener Völker und Stände, verschiedener Konfessionen und Weltanschauungen, aber eines guten Willens.“
Sie, die Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine, aus Russland, Belarus und Deutschland, Sie musizieren heute aus genau diesem guten, gemeinsamen Willen heraus. Oder, in den Worten von Lew Kopelew, „sie alle verfügen über Kräfte, die dauerhafter und wirksamer als alle Bomben und Raketen sein können und sein sollen. Man muss sie nur erkennen und gebrauchen lernen.“
Lew Kopelew war alles andere als naiv. Er hat die Grausamkeit des Sowjetregimes selbst erlebt und erlitten. Und so wie er es wusste, so wissen auch wir, dass im Angesicht des Krieges die Kräfte des guten Willens nicht die einzigen sind, auf die wir vertrauen können. Aber wir müssen wissen, worauf wir bauen und worum wir ringen. Die Kräfte des Friedens in der Musik zu beschwören und uns allen Mut zu machen für das, was vor uns liegt, das tun die Berliner Philharmoniker heute Vormittag. Und dafür meinen ganz herzlichen Dank!