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Ansprache Botschafter von Geyr anlässlich des Gedenkens zum Volkstrauertag

Botschafter Dr. Géza Andreas von Geyr

Botschafter Dr. Géza Andreas von Geyr, © Nikita Markov

13.11.2022 - Rede

Deutscher Soldatenfriedhof Ljublino

- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrte Damen und Herren der Militärattaché-Stäbe, Soldatinnen und Soldaten, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Gäste!

Am Volkstrauertag gedenkt Deutschland alljährlich aller Opfer von Gewalt und Krieg;
der Soldaten;
der Menschen, die durch Krieg oder in Gefangenschaft, als Vertriebene oder Flüchtlinge ihr Leben verloren;
aller, die verfolgt wurden; aller, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben.
Wir trauern um die Opfer von Kriegen und Bürgerkriegen, um die Opfer von Terror und politischer Verfolgung, um die Opfer von Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache.
Wir trauern, teilen Schmerz, hoffen auf Versöhnung und wissen um unsere Verantwortung für Frieden.

Dass Sie an diesem November-Sonntag zu diesem Soldaten-Friedhof gekommen sind weiß ich sehr zu schätzen.
Ich freue mich besonders, dass auch Schülerinnen und Schüler der Deutschen Schule Moskau meiner Einladung gefolgt sind. Sie möchte ich heute besonders ansprechen.

Der Volkstrauertag ist kein einfacher Gedenktag für uns Deutsche, zumal hier in Moskau, und zumal in Zeiten eines aktuellen Krieges.
Eines Krieges, der auch in dieser Stunde Opfer fordert, den mein Land gemeinsam mit dem überwältigenden Teil der Weltgemeinschaft als einen Angriffskrieg Russlands gegen ein souveränes Nachbarland, als einen eklatanten Bruch des Völkerrechts schärfstens verurteilt.

Man könnte meinen, der Volkstrauertag wäre in erster Linie auf die Vergangenheit gerichtet und etwas für ältere Menschen.
Ja, es geht um die Trauer über Opfer früherer Kriege, eine Trauer, die in vielen Familien auch nach Generationen noch gegenwärtig ist.
Es geht aber auch um die Gegenwart und die Zukunft – darum, wie wir Erfahrungen aus der Vergangenheit nutzen, um heute und morgen friedlich zusammenzuleben.
Dies ist Verantwortung aus der Geschichte. Dies ist unsere Verantwortung heute.
Wir Deutsche wissen, dass wir gerade aus den schwierigsten, dunkelsten Kapiteln unserer eigenen Geschichte lernen können - ja lernen müssen.

Ich möchte dazu mit Ihnen drei Gedanken teilen:
Zunächst:
Hier in Ljublino liegen einige Hundert Soldaten, die in einem furchtbaren Krieg gefallen sind, begraben - in Russland und in Europa sind es viele Millionen.
Aber nicht nur um die große, überwältigende Zahl geht es – es geht um jeden Einzelnen.
Wenn wir zu den Grabsteinen gehen, lesen wir Namen. Jeder einzelne Name ist wichtig. Und wir sehen das Alter der Toten, viele waren jung, vielleicht gerade aus der Schule gekommen.
Sie haben ihr Leben früh, viel zu früh verloren. Sie hinterließen Eltern, Geschwister, Ehepartner, Kinder, Freunde.
Jeder Einzelne steht für den Schmerz des Krieges, die Trauer von Familien und Freunden - diese Wunden verheilen in Wirklichkeit nie.
Jeder Grabstein zeigt das wahre Gesicht des Krieges.
Daran sollten wir uns erinnern, wenn wir sehen wie leicht und unbedacht Gewalt und Krieg heute in Sprache, Spielen, Medien präsent sind – und daran sollten wir uns erinnern, wenn für politische Ziele ein Krieg vom Zaun gebrochen und einkalkuliert wird, dass dem Menschen zum Opfer fallen.

Deutscher Soldatenfriedhof Ljublino (Moskau)
Deutscher Soldatenfriedhof Ljublino (Moskau)© Nikita Markov

Zugleich spüren wir beim Blick auf diese Gräber, wie wichtig es ist, Schmerz zu lindern.
Dazu gehört auch ein würdiger Umgang mit Gefallenen und Toten. Noch immer sind unzählige Tote des Zweiten Weltkriegs unentdeckt, noch immer werden alleine hier in Russland in jedem Jahr viele Gefallene, allein gut Zehntausend Deutsche, geborgen, identifiziert und dann würdevoll auf den großen Soldatenfriedhöfen beigesetzt.
Den Familien schafft dies Gewissheit und es lindert den Schmerz.
Ich danke ausdrücklich dem Volksbund Kriegsgräberfürsorge für seine wichtige Arbeit - gerade auch in diesem schwierigen Jahr -, die ich sehr unterstütze. Ich danke unseren russischen Partnern, dass diese Versöhnungsarbeit weiterhin möglich ist. Und ich danke den vielen jungen Freiwilligen, die sich daran beteiligen. Sie tun damit Gutes - für andere und gewiss auch für sich selbst.

Versöhnung, das ist mein zweiter Gedanke:
Wir sollten uns hier bei diesen Gräbern daran erinnern, wie wertvoll Versöhnung ist. Und dass wir Deutsche gut daran tun, gerade hier in Russland und gerade auch in schwierigen Zeiten unsere Dankbarkeit für Versöhnung auch auszusprechen.
Das nationalsozialistische Deutschland hat 1941 die damalige Sowjetunion verbrecherisch überfallen. Man schätzt, dass mehr als 27 Millionen ihrer Einwohner ihr Leben verloren – viele Soldaten, und noch mehr Zivilisten. Sie haben sich den deutschen Angreifern entgegengestellt. Das Ausmaß des Leides, das über die Völker der damaligen Sowjetunion kam, ist unfassbar.
Der deutsche Angriffskrieg ging um Ideologie und um Allmachts-Wahn – dem menschlichen Individuum sprachen die Nationalsozialisten jeden Wert ab. Dies hat den Krieg besonders grausam gemacht.
Und der von Deutschen penibel geplante und durchgeführte Holocaust, der Genozid am jüdischen Volk, ein einzigartiger, unmenschlicher Kulturbruch, hat auch zu einem erheblichen Teil während des Angriffskriegs in der damaligen Sowjetunion stattgefunden.
Deshalb: Wenn wir heute auch an die vielen deutschen Soldaten erinnern, die damals gefallen sind - auch wenn viele jung waren, als sie eingezogen wurden und mitmussten, ob sie wollten oder nicht - verlieren wir nicht aus dem Blick, wer damals Angreifer war und wer der Angegriffene.
Die deutschen Soldaten waren Teil eines zutiefst verbrecherischen Unternehmens. Dies blenden wir keinesfalls aus, sondern wir betonen es vielmehr - um aus unserer Geschichte zu lernen.
Und genau deshalb spreche ich als Deutscher Botschafter gerade auch heute unsere sehr aufrichtige Dankbarkeit aus für die Bereitschaft der Menschen hier in Russland und in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zur Versöhnung.

Mein dritter Gedanke:
Beim Blick auf diese Gräber sollten wir uns daran erinnern, dass Frieden auch heute keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein hohes Gut, das sorgsam bewahrt und geschützt werden muss.
Aus all den furchtbaren Kriegen haben wir gelernt: der beste Schutz des Friedens ist die Stärke des Rechts - im Gegensatz zum Recht des Stärkeren.
Deshalb, um Kriege und Gewalt zu vermeiden, stärken wir das Völkerrecht. Und wir schützen uns und unsere Partner gegen diejenigen, die glauben, aus einem Recht des Stärkeren heraus Nachbarn folgenlos überfallen zu können, und die mit brutalster Gewalt drohen.

Beim Blick auf diese Soldaten-Gräber sollten wir auch daran denken, dass das Recht auch nach Innen gelten muss, auch im Verhältnis des Staates zu seinen Soldaten:
Wenn Soldaten der Bundeswehr heute ihren Eid sprechen, dann schwören sie:
„…das Recht und die Freiheit (…) tapfer zu verteidigen“.
Helmut Schmidt, ehemaliger Bundeskanzler, hat im hohen Alter bei einem Gelöbnis junger Rekruten der Bundeswehr bewegende Worte gefunden.
Er, der er selbst im Zweiten Weltkrieg Offizier gewesen war, rief den jungen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr zu:
„ …ihr könnt euch darauf verlassen: Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen. Denn die Würde und das Recht des einzelnen Menschen sind das oberste Gebot – nicht nur für die Regierenden, sondern für uns alle.“

Beim Blick über diese Gräber hoffe ich sehr, dass im Krieg unserer Tage bald Frieden herrscht – ein Frieden, der das Völkerrecht und das Recht und die Würde jedes Einzelnen achtet und stärkt.

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