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Bundespräsident Steinmeier anlässlich des virtuellen Jahresauftaktes des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft e.V.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, © picture alliance/dpa/Bundespresseamt | Jesco Denzel

25.02.2021 - Rede

Schwieriger hätten die Umstände nicht sein können, Umstände zu der Zeit, als Wirtschaftsminister Ludwig Erhard vor siebzig Jahren Gespräche mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft über die Rolle unserer Wirtschaft in der damaligen Sowjetunion und den durch sie kontrollierten RGW-Staaten begann. Und die offenen Fragen waren auch ein Jahr später – nach Gründung des Ost-Ausschusses – nicht einfach zu beantworten: ein gemeinsamer werbender Auftritt der westdeutschen Wirtschaft im Osten Europas? In einer Region, mit der uns eine lange, wechselvolle Geschichte verbindet, geprägt von fruchtbarem Austausch, aber auch von schrecklichem Blutvergießen. Einer Region, in der wenige Jahre zuvor durch den von Deutschland entfesselten Vernichtungskrieg nahezu jede Voraussetzung für Wirtschaft, Handel und Verkehr zerstört worden war. In Ländern, in denen noch auf Jahrzehnte sozialistische Plan- und auch Misswirtschaft dominierte.

Im vergangenen Jahr haben wir des fünfundsiebzigsten Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges gedacht. In diesem Jahr jährt sich zum achtzigsten Mal der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Die Verantwortung, die uns aus dieser Geschichte dauerhaft erwächst, prägt deutsche Politik bis heute. Das gilt in besonderer Weise gegenüber unserem Nachbarn Polen, der uns inzwischen in der Europäischen Union und in der NATO eng verbunden ist und heute unser größter Handelspartner in der ganzen Region ist. Das gilt für unsere umfassende Unterstützung der Ukraine, aber es gilt auch gegenüber Russland, Belarus und den vielen anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Diese Verantwortung war und blieb auch die historische Folie für das Wirken des Ost-Ausschusses. Der langjährige und legendäre Vorstand des Ost-Ausschusses, Otto Wolff von Amerongen, hat darauf in den Jahrzehnten der Teilung des europäischen Kontinents ebenso hingewiesen wie in den Jahren nach 1990.

Ich erwähne das nicht, um Ihnen eine Vorlesung über die Geschichte des Ost-Ausschusses zu halten, sondern um uns eine etwas größere Perspektive zu geben, wenn wir über die Chancen und Herausforderungen unserer Tage nachdenken. Und um daran zu erinnern, dass die Gegenwart in den Beziehungen zu diesen Ländern natürlich das wichtigste, aber nicht das einzige Prisma ist, durch das wir auf unsere Nachbarschaft schauen. Umgekehrt ist für unsere Nachbarschaft noch viel Vergangenheit in der Gegenwart präsent.

Als sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs viele Staaten eigenständig auf den Weg einer nachholenden Modernisierung machten, richteten sich enorme Erwartungen an westliche Unternehmen und Unternehmer, sie auf diesem Weg zu begleiten. Heute ist der Ost-Ausschuss als große Regionalinitiative der deutschen Wirtschaft in 29 Ländern aktiv – in Mittelosteuropa, Ost- und Südosteuropa, im Südkaukasus und in Zentralasien. Fast alle dieser Länder habe ich bereist, meist in Begleitung von Unternehmens- und Verbandsvertretern, die dem Ost-Ausschuss verbunden sind. Viele Volkswirtschaften der Region sind heute eng mit Deutschland vernetzt und verwoben. Andere öffnen sich erst jetzt und blicken mit großen Erwartungen und Hoffnungen auf ein stärkeres Engagement deutscher Unternehmen. Ich erinnere mich in meiner jetzigen Amtszeit etwa an Reisen nach Kasachstan und Usbekistan, aber auch an Besuche in der Ukraine und in Georgien.

Diese Länder versprechen sich von Ihnen Investitionen, Know-how, Arbeitsplätze. Aber natürlich hoffen sie auch auf die Ausstrahlung deutscher Qualitätsstandards und handwerklicher Präzision – und nicht zuletzt wünschen sie sich fast ausnahmslos die Vermittlung all dieser Qualitäten und Fertigkeiten in einer dualen beruflichen Ausbildung, die dem deutschen Vorbild möglichst nahekommen soll.

In vielen Projekten und Partnerschaften haben der Ost-Ausschuss und die ihn tragenden Unternehmen Brücken Richtung Osten gebaut und Vertrauen gewonnen. Das Zoran-Djindjic-Stipendienprogramm etwa hat mehr als berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, nämlich persönliche Prägungen und langjährige Freundschaften. So hat der Ost-Ausschuss nicht nur die unmittelbaren Interessen seiner Mitglieder im Blick gehabt, sondern immer wieder Beiträge zum friedlichen Wachsen und Zusammenwachsen unseres Kontinents geleistet.

Aber zum ganzen Bild gehört auch, dass die Lage in einigen Ländern spürbar schwieriger geworden ist. Das gilt für Belarus, wo seit den manipulierten Wahlen vom Spätsommer offene Repression und Gewalt herrschen, wo dadurch natürlich auch die Räume für deutsche Unternehmen eng werden. Das gilt auch im Kaukasus, wo der jahrzehntelange Konflikt um die Enklave von Bergkarabach in einen verlustreichen Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien eskalierte.

Besonders beschäftigt uns alle – nicht nur in diesen schwierigen Wochen – das Verhältnis zum größten unserer Nachbarn, zu Russland. Unsere Hoffnungen, auch meine eigenen, auf eine umfassende Partnerschaft mit Russland, für die auch der Ost-Ausschuss und viele seiner Mitglieder sich eingesetzt haben, haben sich nicht erfüllt. Der andauernde Konflikt in der Ostukraine belastet die Beziehungen weiterhin schwer, ebenso wie die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Auch kann Deutschland, kann Europa nicht stillschweigend hinnehmen, dass der Raum zur freien Meinungsäußerung und zur Entfaltung der russischen Zivilgesellschaft immer massiver eingeschränkt wird. Der Umgang mit Nawalny, die Inhaftierung des gerade erst von einer Vergiftung Genesenen, einer Vergiftung, die ihm in seinem Heimatland zugefügt worden ist, ist nicht nur zynisch. Sie ist rechtsstaatswidrig, und Nawalny muss umgehend freigelassen werden. Mit dem gesamten Vorgehen der letzten Wochen verletzt die russische Regierung Verpflichtungen, die sie selbst national und international zum Schutz der Menschenrechte eingegangen ist. An diesen Verpflichtungen werden wir Russlands Verhalten auch in Zukunft messen.

Was folgt aus all dem? Meines Erachtens darf Desinteresse, Gleichgültigkeit oder Abschottung nicht die politische Schlussfolgerung sein. Obwohl vieles darauf hindeutet, dass Russlands Führung das Land zunehmend nach innen orientiert, dass sie sich so wenig wie kaum zuvor in den letzten drei Jahrhunderten auf Europa als Quelle für Modernisierung und Orientierung für Russlands eigene Zukunft bezieht. In dieser schwierigen Phase unserer Beziehungen müssen wir darauf achten, dass nicht alle Verbindungen abreißen. So wie es die neue US-Regierung tut, die Moskau zu Recht scharf kritisiert, aber zugleich – wie mit der Verlängerung des Rüstungskontrollvertrages New START – nach verbindlichen Verabredungen mit Russland sucht, die zur strategischen Stabilität beitragen und deshalb auch in unserem Interesse sind. Es ist gut und wichtig, dass auch zwischen Berlin, Brüssel und Washington das Gespräch über das „Wie weiter?“ wieder gesucht wird.

In den letzten zwanzig Jahren sind viele Brücken zwischen Ost und West brüchig geworden. Das ist gerade in Krisenzeiten ein besorgniserregender Zustand – und das sage ich ausdrücklich auch an die Adresse Moskaus. Wir leben in der Gegenwart eines schwierigen Verhältnisses, aber es gibt eine Vergangenheit davor und eine Zukunft danach. Für die Zukunft eines friedlichen Europas tragen wir auf beiden Seiten Verantwortung, auch mit Blick auf die, die nach uns kommen.

Wahr ist: Es gibt keinen geschützten Raum für wirtschaftliche Verflechtung jenseits der politischen Rahmenbedingungen. Und die Wirtschaft ist auch nicht die Wunderwaffe der Politik, wenn diese ihre eigenen Transformationserwartungen nicht verwirklichen kann. Trotzdem: Was deutsche Unternehmen leisten, warum sie in allen Ländern nicht nur unserer östlichen Nachbarschaft hochwillkommen sind, ist eben mehr als die bloße Erschließung von Absatzmärkten. Sie halten Verbindung zwischen Staaten und Völkern. Sie bieten Menschen eine Perspektive für die Zukunft, in diesen Ländern wie bei uns zuhause. Sie bringen Menschen zusammen und fördern Austausch. Und dieser Kontakt zwischen Menschen, selten war er so wichtig wie heute!

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