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„Brücken bauen“: Interview des Botschafters von Geyr für die Zeitschrift „Russkaja Mysl“

Botschafter Dr. Géza Andreas von Geyr

Botschafter Dr. Géza Andreas von Geyr, © Deutsche Botschaft Moskau / Nikita Markov

29.10.2020 - Interview

Herr Botschafter, das Deutschlandjahr in Russland, das im September 2020 startete, erstreckt sich bis Mitte 2021 Wie sehen die Maßnahmen aus, die eine nachhaltige interkulturelle Entwicklung in einer Zeit präzedenzloser globaler Veränderungen gewährleisten?

Kultur baut Brücken, überwindet Grenzen und verbindet die Menschen, zu jeder Zeit. Die Bundesregierung hat sich entschlossen, nach 8 Jahren erstmals wieder ein Deutschlandjahr in Russland zu veranstalten. Wir finden, dass dies der richtige Zeitpunkt ist, um Deutschland in seiner Vielfalt hier zu präsentieren, gerade auch mit viel Kultur. Der Zeitpunkt ist auch richtig, weil wir global mit großen Herausforderungen konfrontiert sind, die wir nur gemeinsam bewältigen können. Pandemien und der Klimawandel machen nicht vor Ländergrenzen halt. Mit dem Deutschlandjahr wollen wir auch ein tiefes Verständnis dafür schaffen, dass wir, Deutsche und Russen, gemeinsam handeln müssen, um gemeinsam erfolgreich zu sein.

Was könnte die interkulturelle Zusammenarbeit zur Intensivierung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen beitragen?

Die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Deutschland und Russland sind stark entwickelt. Sie bilden ein solides Fundament für unsere Beziehungen insgesamt. Ich freue mich, dass deutsche Produkte und deutsche Wertarbeit in Russland hohe Wertschätzung erfahren. Viele deutsche Unternehmen engagieren sich seit Jahren auf dem russischen Markt, suchen die Zusammenarbeit. Dieses Miteinander muss sich aber jetzt ernsthaft bewähren. Die Coronakrise beeinträchtigt die Wirtschaft weltweit und hinterlässt auch im deutsch-russischen Verhältnis ihre Spuren. Deutsche Unternehmen sind grundsätzlich weiterhin zu einem wirtschaftlichen Engagement bereit. Sie erwarten dabei faire und verlässliche Rahmenbedingungen, einen geregelten Zugang zum russischen Markt und eine ausgewogene Lokalisierungspolitik. Sie erhoffen von der russischen Politik konkrete Maßnahmen, die eine Geschäftstätigkeit in Russland auch künftig attraktiv machen. Die hohe Bereitschaft deutscher Unternehmen zu einem weiteren Engagement in Russland zeigt sich auch an der breiten Unterstützung, die sie für die Umsetzung der Projekte des Deutschlandjahres leisten.

Frankfurt ist seit 1473 die Buchhauptstadt Europas. Die Veranstalter der Frankfurter Buchmesse sind der Meinung, es sei besonders wichtig, dass die Buchmesse auch in diesem Jahr stattfindet. Können wir damit rechnen, dass alle vom Goethe-Institut geplanten Kulturveranstaltungen auch in Russland durchgeführt werden?

Wir planen für das Deutschlandjahr sehr viele Aktivitäten landesweit in Russland. Angesichts der Corona-Pandemie gehen wir dabei aber sehr vorsichtig und verantwortungsbewusst vor. Oberste Priorität hat für uns die Gesundheit der Menschen. Daher planen wir zunächst eine Mischung aus Präsenz- und virtuellen Formaten. Bei einer weiter positiven Pandemie-Entwicklung wollen wir die Präsenzformate ausweiten. Bei allen positiven Effekten können virtuelle Veranstaltungen nicht die reale Begegnung von Menschen ersetzen. Wir hoffen daher, dass es im Verlaufe des Deutschlandjahres gelingt, viele Menschen in den Projekten physisch zusammenzubringen.

Inwieweit ist die deutsche Leserschaft mit der russischen Literatur vertraut? Was könnte man einem modernen russischen Schriftsteller raten, um Erfolge beim deutschen Leser zu erzielen?

Ich habe den Eindruck, dass deutsche Leser sehr aufgeschlossen sind für die russische Literatur. Insbesondere die Klassiker sind beliebt und werden viel gelesen. Aber auch zeitgenössische Schriftsteller sind erfolgreich, da sie die Situation der russischen Gesellschaft beschreiben und seismographisch die aktuelle Lebenswirklichkeit, das Denken und Fühlen der Menschen in Russland für uns Deutsche begreiflich machen. Ein Beispiel: vor wenigen Tagen durfte ich Ljudmila Ulizkaja zur Auszeichnung mit dem Siegfried Lenz-Preis gratulieren. Als erste russische Schriftstellerin wurde ihr dieser renommierte deutsche Literaturpreis verliehen, auch weil sie authentisch und mit hoher Kunstfertigkeit gesellschaftliche Entwicklungen im heutigen Russland beschreibt. Fast alle ihre Romane und Erzählungen wurden ins Deutsche übersetzt und in Deutschland verlegt. Apropos Übersetzungen: ohne gute Übersetzer können Schriftsteller kaum erfolgreich sein bei Leser im Ausland. Seit Jahren zeichnen wir daher gemeinsam mit dem deutschen Unternehmen Merck und dem Goethe-Institut herausragende Übersetzungen deutscher Literatur ins Russische in verschieden Kategorien aus. Die nächste Preisverleihung findet am 29.09.2020 in Moskau statt.

Die deutsche Philosophie (Hegel, Kant, Nietzsche, Spengler, Marx, Heidegger mit seinem Dasein-Begriff) hat nicht nur die Entwicklung Deutschlands und Europas stark geprägt, sondern auch der ganzen Welt. Wie groß ist heutzutage der Einfluss der deutschen Philosophie auf die Literatur und der Literatur auf die Gesellschaft?

Unsere heutige Welt ist von einer einzigartigen Komplexität geprägt. Wir alle werden tagtäglich mit globalen Fragen konfrontiert. Beispiel Klimawandel: wir alle spüren, dass sich unsere klimatischen Lebensbedingungen verändern – mit weltweiten Auswirkungen. Begrenzte Herangehensweisen reichen nicht aus, um globale Herausforderungen zu bestehen. Eine umfassende internationale Vernetzung von Akteuren und verschiedener Wissenschaftsbereiche – auch der Philosophie- ist nötig, um wirksame Lösungen zu entwickeln. Bereits der deutsche Universalgelehrte Alexander von Humboldt hat für einen solchen integrierten und vernetzten Ansatz geworben. Hieran haben wir erinnert, als wir im vergangenen Jahr den 190. Jahrestag seiner berühmten Reise durch Russland mit vielen Veranstaltungen würdigten.

Auch die Politik ist gefragt. Dabei darf sie nicht allein auf ihre Durchsetzungskraft setzen. Es gilt auch, die Menschen davon zu überzeugen, dass neue Lösungen gefragt sind, neue Wege gegangen werden müssen, um globale Probleme in den Griff zu bekommen. Ein gesellschaftliches Umdenken ist gefragt. Kultur und Literatur als prägende Ausdrucksformen der Gesellschaft spielen hier eine wichtige Rolle.

Laut Angaben der Neurophysiologie bestimmt die Sprache Mentalität, Logik und Anpassung der sogenannten Kultur-Codes an die Matrix der Entwicklung eines Menschen. Das Goethe-Institut fördert aktiv die deutsche Sprache in Russland. Wie bewerten Sie die soziokulturelle Rolle der deutschen Sprache? Welche Erfahrungen haben Sie beim Fremdsprachenlernen gemacht und wie hat das Ihr Weltbild geprägt?

Sprache trägt und transportiert Kultur. Sie macht das Denken erfahrbar. Sprache ist identitätsstiftend für die Gesellschaft. Als Diplomat, der viel in Europa und auf anderen Kontinenten unterwegs ist, bin ich immer wieder beeindruckt von dieser identitätsstiftenden Rolle der Sprache. Der Erhalt von Sprachen und auch Dialekten in ihrer Vielfalt ist eine wichtige Aufgabe. Wir dürfen nicht diesen in vielen Teilen der Welt gefährdeten Reichtum verlieren.

Sprache ist auch eine Brücke. Ich nehme in Russland immer wieder mit Freude wahr, dass die deutsche Sprache hierzulande sehr geschätzt wird – als Sprache der Bildung und Wissenschaft, zunehmend auch als Sprache des Berufs. Das Goethe-Institut und viele andere deutsche Kulturmittlerorganisationen unterstützen daher das Erlernen der deutschen Sprache in Russland. Und dies gemeinsam mit russischen Partnern, z.B. der Selbstorganisation der Russlanddeutschen, die in zwei Kulturen verwurzelt sind. Diese Sprachförderung ist erfolgreich: über 1 Million Schülerinnen und Schüler erlernen heute Deutsch in Russland, mit steigender Tendenz.

Viele Literaturschaffende sind der Auffassung, dass die Poesie in Russland an Popularität verliert. Das sei darauf zurückzuführen, dass Gedichte nicht übersetzt werden können – sie verlieren die besondere Schönheit, die die Originalsprache besitzt. Und wie sieht es mit der Dichtkunst in Deutschland aus?

Die Dichtkunst ist in Deutschland auch heutzutage gefragt. Dichter gehen dabei neue Wege. Sehr populär vor allem bei jungen Menschen ist das Format des „Poetry Slam“, bei dem die Dichter sich einem literarischen Wettbewerb stellen und dabei in direkte Interaktion mit ihrem Publikum treten.

Die Übersetzung von Gedichten in andere Sprachen ist für mich die höchste Form der Übersetzungskunst. Deshalb freut es mich besonders, dass beim erwähnten Übersetzerpreis neben Übersetzungen in den Bereichen Belletristik, Sachbuch und Kinderbuch auch die Poesie nicht zu kurz kommt: Mit dem Goethe-Förderpreis wird eine herausragende Übersetzung zeitgenössischer Lyrik prämiert. Damit möchten wir die russischen Leserinnen und Leser auf die moderne deutsche Poesie aufmerksam machen und diejenigen unterstützen, die sich dieser höchsten Form der Übersetzungskunst widmen.

Was sind Ihre persönlichen Vorlieben in Musik, Literatur, Kunst und Philosophie?

Ich bin vielseitig interessiert und liebe die Abwechslung. Ich mag Musik und Literatur ebenso wie Kunst und Philosophie unterschiedlichster Art. Daher freue ich mich auch darauf, dass wir im Deutschlandjahr ganz unterschiedliche Facetten Deutschlands in Russland vorstellen und bekanntmachen wollen, mit viel Kultur, – und bin gespannt auf die Aufnahme und Reaktion des russischen Publikums.

In seinem Werk „Der Untergang des Abendlandes“ vergleicht Oswald Spengler die Entwicklung der Kultur mit der Entwicklung der lebendigen Natur im Sinne von Goethe und nicht mit der Entwicklungen von toter Natur im Sinne von Newton und behauptet, dass jede Kultur eine eigene Idee, eigene Leidenschaften, eigenes Leben besitzt. Was ist die Hauptidee, die Hauptbotschaft der deutschen Kultur?

Das heutige Deutschland ist tief geprägt von den geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Die enge Einbindung in das europäische Miteinander gibt und lässt uns den Raum für Vielfalt. Viele Deutsche sind zunehmend davon überzeugt, dass die großen Herausforderungen unserer Zeit nur durch gemeinsames Handeln bewältigt werden können. Und ein grenzüberschreitendes Zusammenwirken: weder der Klimawandel noch das Coronavirus können nur mit lokalen Maßnahmen wirksam bekämpft werden. Der Diskurs in unserer heutigen Gesellschaft ist daher ein sehr europäischer geworden – in einem weiten Sinne, der auch europäische Werte einschließt.

Immanuel Kant sagte: „…The duty of philosophy is to destroy the illusions…“. Was ist Ihrer Meinung nach die Pflicht der Kulturdiplomatie und eines Diplomaten?

Lassen Sie mich hier kurz antworten, indem ich den zitierten Satz von Immanuel Kant fortführe: ,,…and to build bridges.„

Das Interview wurde in der Zeitschrift “Russkaja Mysl„ veröffentlicht

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