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Interview Botschafter von Geyr für die Sonderausgabe der russischen Zeitung RBC

30.06.2020 - Interview

Botschafter Dr. Géza Andreas von Geyr
Botschafter Dr. Géza Andreas von Geyr© Nikita Markov
Die Wirtschaft Deutschlands ist im Wesentlichen auf den Export orientiert. Wird diese Strategie im Lichte der Erfahrungen mit den Quarantänemaßnahmen korrigiert werden?

Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass die Export-Erfolge der deutschen Wirtschaft nicht auf einer übergeordneten strategischen Planung oder Lenkung basieren. Vielmehr sind sie Ergebnis der Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft vieler Branchen, die sich diese über Jahrzehnte erarbeitet haben. Denken Sie an die mittelständischen Maschinenbauer oder die pharmazeutische Industrie, aber auch an die Fahrzeugbranche. Der Staat unterstützt dies natürlich, und zwar besonders in den Bereichen, die für unsere Unternehmen langfristig positiv wirken: Bildung, Forschung, Mittelstandsförderung.

Wenn die Unternehmen dann auf den Weltmärkten erfolgreich sind, ist das gut für beides: für Arbeitsplätze im eigenen Land und auch für dauerhafte Präsenz im Ausland. Denn die deutsche Wirtschaft ist ja auch ein großer Investor in vielen Ländern, gerade auch in Russland.

Eine der wichtigen Lehren für die Unternehmen aus der Corona-Krise wird gewiss sein, internationale Lieferketten widerstandsfähiger zu machen und weit mehr zu diversifizieren.

Auf welche Bereiche wird im Rahmen der Wiederherstellung des wirtschaftlichen Lebens Deutschlands besonderes Gewicht gelegt?

Bereits früh war klar, dass Deutschland von der Pandemie auch wirtschaftlich schwer getroffen sein würde. Deswegen hat die Bundesregierung schon im März ein erstes, umfassendes Hilfspaket zur Schadensbegrenzung auf den Weg gebracht, und zwar sowohl für Unternehmen, wie auch für besonders betroffene Bürger. Dieses Paket, das größte in der Geschichte der Bundesrepublik, hat mehrere Ansatzpunkte: Am wichtigsten und wirkungsvollsten ist, dass mit dem Instrument Kurzarbeitergeld Arbeitsplätze gerettet werden, und dass daneben insbesondere kleine und mittlere Unternehmen gezielt Unterstützung erhalten. Dies ist entscheidend zur Abfederung der Krise und für eine möglichst rasche Gesundung unserer Wirtschaft insgesamt.

Und diese wird bei realistischer Betrachtung dauern: Nach aktuellen Einschätzungen der Bundesregierung dürfte das deutsche Bruttoinlandsprodukt erst Anfang 2022 wieder das Niveau von Ende 2019 erreichen.
Damit die Wirtschaft jetzt wieder Tempo aufnehmen kann, hat die Bundesregierung Anfang Juni zusätzlich ein 130 Mrd. € schweres Konjunkturpaket beschlossen. Auch dieses soll in mehrere Richtungen wirken: es soll der breiten Bevölkerung Anreize zum Konsum geben, z.B. indem die Mehrwertsteuer für ein halbes Jahr gesenkt wird. Daneben werden ganz gezielt Zukunftstechnologien gefördert, wie Künstliche Intelligenz oder die Nutzung der Wasserstofftechnologie. Dafür werden 50 Mrd € zur Verfügung stehen. Sie sehen: Es geht darum, sowohl die Bevölkerung sehr unmittelbar zu unterstützen, wie auch gerade jetzt in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes zu investieren.

Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron haben die Schaffung eines Unterstützungsfonds in Höhe von 500 Mrd. € für die Wirtschaft der EU initiiert. Wie haben die Kollegen der EU diese Idee bewertet? Ist es bekannt, unter welchen Bedingungen und von wem die Beihilfen gezahlt werden?

Entscheidend ist das eindeutige Signal: Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron haben mit ihrem Plan gezeigt, dass sie bereit sind, sich mit gewaltigen Mitteln für das Miteinander in der EU zu engagieren: dafür, dass die Mitgliedstaaten, die ja alle betroffen sind, gemeinsam gut aus dieser Krise herauskommen, und dies, weil die Lage so einzigartig ist, auch auf ganz neuen Wegen. Über die genaue Ausgestaltung der Instrumente und Kriterien müssen die europäischen Gremien noch beraten und entscheiden. Aber nochmal: zentral ist die gemeinsame Überzeugung, dass es zum Einen um Solidarität und Empathie innerhalb der EU geht. Und dass es zum Anderen angesichts unserer engstens vernetzten Volkswirtschaften im Interesse aller Europäer ist, dass unsere wirtschaftlichen Strukturen und Lieferketten erhalten bleiben und die europäische Wirtschaft als Ganzes schnell ihren Weg aus der Krise findet. Der Vorschlag greift im Übrigen schon vorher geäußerte, ganz unterschiedliche Positionen von EU-Partnern auf. Der Maßnahmemix hat damit gutes Potenzial, zu einem guten Kompromiss zu werden.

Sind Veränderungen in den Wirtschaftsbeziehungen innerhalb der EU in der Folge der Corona-Pandemie möglich? Welche Lehren muss man ziehen, damit die Zusammenarbeit nicht leidet?

Wenn Deutschland ab 1. Juli für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft in der EU wahrnimmt, ist die Oberste Priorität klar: Bekämpfung der Pandemie und wirtschaftliche und soziale Stabilisierung. Europa hat das Zeug, am Ende sogar gestärkt aus dieser Krise zu kommen – aber das wird nicht leicht. Zugleich ist es wichtig, die großen Zukunftsthemen weiter voranzubringen: Klimaschutz, Digitalisierung, auch Rechtstaatlichkeit und die Rolle Europas in der Welt. Nur das Bemühen um all dies zusammen ist auf die aktuelle epochale Herausforderung eine adäquate Antwort.

Wichtig ist mir aber auch zu betonen, dass sich – auch wenn dies nicht zum Klischee, das manche gerne zeichnen passt - die EU doch relativ rasch in dieser Krise als handlungsfähig erwiesen hat. Es ist völlig verständlich, dass angesichts der Wucht, mit der die Epidemie auf Europa getroffen ist, der erste Schutz-Reflex überall ein stark nationaler war. Rasch aber wurde ebenso klar, dass die Realitäten Europas nach mehr und mehr gemeinsamer Koordinierung, ja gemeinsamen Lösungen verlangen. Die Länder haben sich in Wissenschaft und Forschung eng ausgetauscht, sich konkret bei der Versorgung von Patienten unterstützt, oder etwa die Infrastruktur für den Warentransport während der gesamten Zeit aufrechterhalten. Wir haben gemeinsam in dieser Krise, die ja eine völlig neuartige ist, gelernt.

Und: Von den Staats- und Regierungschefs wurde ein gemeinsames Krisenpaket im Umfang von immerhin 540 Mrd. Euro gebilligt. Auch dieses umfasst mehrere Bereiche: erstens neue, verbesserte Kreditlinien innerhalb des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM; zweitens einen Garantiefonds der Europäischen Investitionsbank vor allem für kleine und mittlere Unternehmen. Und drittens das Instrument SURE zur Finanzierung von Kurzarbeitergeld. Und über diese kurzfristig greifenden Instrumente hinaus bietet der Macron-Merkel-Plan mittelfristige Perspektiven. Insgesamt also zeigen die Europäer auch in der Krise ein starkes gemeinsames Profil. Und sie sind bereit, ganz erhebliche Mittel gemeinsam und für einander aufzubringen.

Plant die Bundesregierung trotz Corona-Krise weiter ein Deutschland-Jahr 2020/2021 in Russland?

Ein ganz klares Ja! Bei allen aktuellen Problemen müssen und wollen wir jetzt auch den Blick nach vorne richten. Das Deutschland-Jahr in Russland kommt gerade zur rechten Zeit. Es wird nach dem Sommer beginnen und viel Deutschland nach Russland bringen: von Kultur über Wissenschaft bis Wirtschaft. Wir sollten es gemeinsam als Plattform nutzen, um dem Miteinander zwischen Deutschen und Russen nach der Corona-Pause wieder Schwung und Elan zu geben, gerade auch in unseren Wirtschaftsbeziehungen.

Das Deutschland-Jahr ist eine hervorragende Gelegenheit sichtbar zu machen, wie engagiert Deutschland in ganz Russland ist, wie eng die Menschen in vielen Bereichen zueinander stehen und wie zukunftsorientiert wir Themen und Projekte fördern. Dazu passt gut, dass unsere Regierungen beschlossen haben, sich während des kommenden Jahres in einem speziellen deutsch-russischen Themenjahr auf die Zukunftsaufgabe „Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung“ zu konzentrieren. Auch dies bietet beste Anknüpfungspunkte für neue gemeinsame Ideen und Aktivitäten – zumal viele aktuelle globale Probleme uns die Bedeutung wirklich nachhaltigen Wirtschaftens und dabei grenzüberschreitender Lösungen deutlich vor Augen halten.

РБК+

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