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Rede von Außenminister Heiko Maas anlässlich der Eröffnung der 18. Konferenz der Leiterinnen und Leiter der deutschen Auslandsvertretungen

Außenminister Heiko Maas

Außenminister Heiko Maas, © AA

25.05.2020 - Rede

Lieber Josep Borrell,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor allem aber: liebe Kolleginnen und Kollegen,

dass ich ausgerechnet den Weltsaal im Auswärtigen Amt einmal vermissen würde, das hätte ich mir vor ein paar Wochen noch nicht träumen lassen. Aber gerade jetzt, inmitten dieser Krise, hätte ich sehr gerne in vertraute Gesichter geblickt.

Zumal eine Botschafterkonferenz – so wie Diplomatie insgesamt - ja ganz besonders von persönlichen Begegnungen und den Gesprächen am Rande lebt.

Und doch: Unser virtuelles Treffen heute und morgen dürfte auf Jahre hinaus eines unserer wichtigsten werden.

Denn die drei Elemente, die eine Botschafterkonferenz ausmachen, braucht es in Zeiten wie diesen mehr denn je:

  • Standortvermessung,
  • Kursbestimmung,
  • ja und auch ein Stück Selbstvergewisserung.

In diesem Sinne: Herzlich Willkommen zur ersten digitalen Botschafterkonferenz des Auswärtigen Amts!

Müssen wir uns einstimmen auf eine Welt, in der nichts mehr so sein wird, wie es war? Oder ist diese Krise nur ein weiterer Umbruch in der an Umbrüchen reichen, 150-jährigen Geschichte unseres Hauses?

Beschleunigt die Pandemie nur ohnehin schon bekannte geopolitische, ökonomische und gesellschaftliche Umwälzungen? Oder ist sie eine Zäsur, die so tief geht wie die großen Wendepunkte unserer Geschichte im letzten Jahrhundert – die Jahre 1919, 1949 und 1989?

Um meine Antwort gleich vorwegzunehmen: „sowohl als auch“.

In dieser Krise steckt Zusammenbruch und Aufbruch. Radikale Veränderung und zugleich die Vertiefung bestehender Strömungen.

Wenn wir die Weichen richtig stellen wollen für die Post-Corona Welt, dann müssen wir:

  • Genau hinsehen,
  • differenziert analysieren
  • und vor allem klar unterscheiden zwischen der komplexen Realität und allzu simplen Narrativen, die den viel beschworenen Systemwettbewerb zur self-fulfilling prophecy werden lassen.

Nehmen wir die Frage, wer im geopolitischen Ringen dieser Tage als vermeintlicher Sieger vom Platz geht.

Die meisten Wetten lauten auf China. Aber ist es so einfach?

Sicher, das Selbstbild Chinas zeigt ein Land, das besser aus der Krise kommt als alle anderen. Aber was heißt es für das weltweite Vertrauen in China als Führungsmacht, wenn Forderungen nach Transparenz konsequent überhört werden? Und werden internationale Unternehmen weiter „just in time“ in China produzieren, wenn die Ursachen einer solchen Krise nicht nachprüfbar aufgearbeitet werden?

Auch beim Blick über den Atlantik ist ein Zerrbild entstanden. Es zeigt die USA in völliger Überforderung – irgendwo zwischen kollabierendem Gesundheitssystem und galoppierenden Arbeitslosenzahlen. Dabei sind sich fast alle Experten einig, dass vor allem ein Wirtschaftszweig noch mächtiger aus dieser Krise hervorgehen wird: Die Digitalwirtschaft. Und damit viele der großen US-amerikanischen Unternehmen.

Und wo steht Europa? Auch unser Bild hat gelitten in der Krise. Mit Blick auf die geschlossenen Schlagbäume fürchten kluge Köpfe wie Ivan Krastev ein „Comeback des Nationalstaats“. Und George Soros sieht die EU bereits im Überlebenskampf.

Ich kann die Sorge durchaus nachvollziehen, die darin mitschwingt. Zumal, wenn man sich vor Augen führt, welche Kräfte jahrelang nach Grenzschließungen gerufen haben. Und trotzdem: Ich teile diesen Europa-Fatalismus überhaupt nicht.

Als EU-Präsidentschaft wird Deutschland ab dem 1. Juli besondere Verantwortung dafür tragen, diesem Narrativ klar entgegenzutreten und zwar in Worten und in Taten.

Die zwei Grundprinzipien der europäischen Demokratie heißen doch Solidarität und Subsidiarität! Und beide hatten in der Krise ihre Berechtigung.

Erst das entschlossene Handeln der Nationalstaaten zu Beginn hat Raum eröffnet für Solidarität ungekannten Ausmaßes: Für das größte Hilfspaket in der Geschichte unseres Kontinents mit über 1 Billion Euro.

Und sind angesichts einer Pandemie, die keine Grenzen kennt, nicht gerade die Tugenden gefordert, die wir Europäer über Jahrzehnte verinnerlicht haben: Kompromissbereitschaft, Pragmatismus und Kooperation über Grenzen hinweg?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich glaube, wir können durchaus etwas mehr Zutrauen in uns und die Gestaltungskraft Europas gebrauchen angesichts der Größe der Herausforderungen, die vor uns liegen:

  • In den Vereinten Nationen, den G7 oder den G20 erleben wir, wie die Auseinandersetzung zwischen den USA und China globale Lösungen massiv erschwert.
  • Der Absturz der Weltwirtschaft - der IWF spricht von einer „epochalen Rezession“ - wird die Spielräume auch in der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik weiter einschränken.
  • Globale Ungleichgewichte werden zwangsläufig wachsen. Das wird bestehende Konflikte verschärfen und manch fragile Volkswirtschaft in neue, dramatische Krisen stürzen.

Alles was wir in dieser ersten, wirklich weltumspannenden Krise unseres Jahrhunderts tun können, können wir nur europäisch leisten.

Dieser „europäische Imperativ“ verlangt von allen Mitgliedstaaten, auch von uns, europäische Interessen als nationale Interessen zu begreifen, nationale Interessen auch europäisch zu denken - und natürlich auch entsprechend zu handeln.

Während unserer Ratspräsidentschaft gilt das natürlich umso mehr und gerade für uns.

Effektives Krisenmanagement wird das sein, woran die Bürgerinnen und Bürger uns zu Recht messen. Das reicht von den Verhandlungen über ein zukunftsweisendes Wiederaufbauprogramm, über unseren Einsatz für einen weltweit verfügbaren Impfstoff bis hin zur Wiederherstellung des Binnenmarkts und der Reisefreiheit. Denn eines, darüber können wir uns gewiss sein: Ohne Austausch über Grenzen hinweg wäre die Europäische Union völlig entkernt.

In den letzten Tagen habe ich deshalb unzählige Gespräche mit meinen europäischen Kollegen über ein koordiniertes Ende von Grenzkontrollen und Quarantäneregeln geführt.

Und ich bin zuversichtlich, dass wir Reisen innerhalb Europas unter klaren Bedingungen noch vor Beginn unserer Ratspräsidentschaft wieder möglich machen können. Und auch die weltweite Reisewarnung wollen wir ab Mitte Juni in detaillierte Reisehinweise umwandeln, wenn die Infektionslage das erlaubt. Als Schritt aus der Krise und Signal für ein vereintes Europa.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

als wäre all das nicht schon genug für eine Präsidentschaft, wird es mit reinem Krisenmanagement aber auch nicht getan sein. Denn die Krise hat auch schonungslos alte Schwächen aufgedeckt. Ich will hier nur das Stichwort europäische Souveränität nennen.

Wir müssen unsere Abhängigkeiten in strategisch wichtigen Bereichen dringend verringern: im Gesundheitssektor, aber genauso bei Energie, Informationstechnik, Ernährung, Logistik und Rohstoffen wie Seltenen Erden. Wo es um die Sicherheit und Gesundheit unserer Bevölkerung geht, da muss die EU die sichere Versorgung garantieren können.

Das ist keine Abkehr vom freien Handel.

Aber die Balance zwischen internationaler Arbeitsteilung und den Risiken strategischer Abhängigkeiten muss neu justiert werden. Und ich möchte, dass Deutschland und Europa dabei Vorreiter sind.

Bei all dem geht es natürlich auch darum, Europas Einfluss zu sichern in einer Post-Corona-Welt. Josep Borrell und ich haben schon oft darüber diskutiert, wie wir in Europa geeinter gegenüber China auftreten oder unseren russlandpolitischen Minimalkonsens endlich verbreitern können. Schritte dorthin wollen wir während unserer Präsidentschaft gehen.

Darüber hinaus wird diese „Corona-Präsidentschaft“ schon aufgrund beschränkter Kapazitäten in Brüssel und den Hauptstädten vor allem durch eines geprägt sein müssen: Eine strategische Prioritätensetzung.

Wir brauchen ein Abkommen, das die Beziehungen zu unserem künftig wichtigsten Nachbarn außerhalb der EU regelt. Alles andere wäre für Großbritannien und die EU eine riskante Reise ins Ungewisse.

Und auch darüber hinaus ist der Erhalt der Stabilität in unserer Nachbarschaft zentrales Ziel unserer Präsidentschaft. Die Länder des Westlichen Balkans und der Östlichen Partnerschaft, aber auch unseren Nachbarkontinent Afrika werden wir deshalb in ganz besonderem Maße bei der Bewältigung der Pandemie unterstützen.

Zusätzlich zu alledem – auch daran lässt diese Krise keinen Zweifel – wird Europa der Motor sein müssen für globale, multilaterale Lösungen.

Nicht zuletzt dank der Allianz für den Multilateralismus ist es gelungen, die Einordnung eines künftigen Impfstoffs als globales öffentliches Gut international zu verankern. Und auch den „europäischen Frühling“ im Sicherheitsrat, mit den nachfolgenden Präsidentschaften von Estland, Frankreich und uns, nutzen wir, um der europäischen Stimme mehr Gewicht auf der Weltbühne zu geben. Und zwar dort, wo es aktuell ganz besonders wichtig ist: Bei den Auswirkungen großer Gesundheitsrisiken auf die Sicherheit.

Lassen Sie uns aber unser Treffen aber auch nutzen, um über das Thema Gesundheit hinauszudenken. Was heute die COVID-Pandemie ist, kann morgen ein verheerender Cyberangriff sein, eine ökologische Großkatastrophe oder gar ein Konflikt mit hochtechnologischen, neuen Waffen. Die Corona-Krise zeigt, wie schnell aus solchen Szenarien Realität werden kann.

Seit Jahren arbeiten wir deshalb an klareren internationalen Regeln. Oft gleicht das einem Kampf gegen Windmühlen. Aber: Wenn wir Europäer diesen Kampf für einen Multilateralismus des 21. Jahrhunderts nicht anführen, dann wird es auch sonst niemand tun.

Wir sollten uns zunutze machen, dass diese Krise auch in manchen anderen Hauptstädten zum Nachdenken führt. In Zeiten drastisch schrumpfender Haushaltsspielräume dürfte Rüstungskontrolle zum Beispiel auch für Moskau, Peking und Washington interessanter werden.

Und muss mit dem Digitalisierungsschub, den diese Krise auslöst, nicht auch eine digitale Diplomatie einhergehen, die auf Augenhöhe mit internationalen Technologiekonzernen Lösungen für die Zukunft erarbeitet?

Noch während unserer Präsidentschaft wollen wir deshalb ein Europäisches „Digital Diplomacy Network“ aufbauen.

Und auch das Auswärtige Amt werden wir flexibler und fitter machen für die digitale Transformation. Mobiles Arbeiten ist ein Muss in Krisenzeiten, nicht nur in Krisenzeiten. Das haben wir alle aber in den letzten Wochen ganz besonders intensiv erleben können. Wir haben deshalb diese Woche beschlossen, allen Beschäftigten – in Berlin und im Ausland – in den nächsten drei Jahren mobiles Arbeiten technisch zu ermöglichen.

Dabei ist mir sehr wohl klar: damit holen wir nur nach, was längst hätte passieren müssen.

Umso mehr weiß ich zu schätzen, was Sie an den Botschaften und in den Konsulaten in den letzten Wochen geleistet haben.

Mein Dank für die erfolgreiche Rückholung von über 240.000 Menschen nach Deutschland geht deshalb zuallererst an Sie und die Kolleginnen und Kollegen in Ihren Teams. Zumal neben all der konsularischen Arbeit eben das, was ich eingangs von uns allen eingefordert habe, nie auf der Strecke geblieben ist: Das genaue Hinsehen und auch die differenzierte Analyse.

Gerade jetzt, ohne die Möglichkeit zu reisen, ist das Sensorium der Auslandsvertretungen wichtiger als je zuvor. Wie gut es funktioniert, das habe ich in den letzten Tagen noch einmal auf ganz andere Weise erlebt. Und zugleich werden sie mehr denn je als „Fenster zu Deutschland und Europa“ gebraucht. Herzlichen Dank dafür!

Lieber Josep, wirst in den kommenden sechs Monaten unserer Präsidentschaft auf dieses Netzwerk zurückgreifen können. Und auch über den Dezember hinaus werden Deutschland und seine Diplomatinnen und Diplomaten immer Teil dessen sein, was Du „Team Europe“ nennst.

Ich habe zu Anfang die Wendepunkte erwähnt, die den Lauf der Geschichte dieses Hauses, unseres Landes und Europas im letzten Jahrhundert bestimmt haben. So unterschiedlich sie waren, eins hatten sie alle gemeinsam. Sie haben die existenzielle Notwendigkeit internationaler Kooperation für alle Welt sichtbar werden lassen.

Ob sich diese Einsicht auch in dieser Krise am Ende durchsetzt, lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen.

„Team Europe“ aber sollte alles dafür tun.

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