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Interview von Bundesminister Maas mit RIA Novosti

Bundesaussenminister Heiko Maas

Bundesaussenminister Heiko Maas, © Janine Schmitz/photothek.net

13.10.2020 - Interview

Manche Experten und Politikern sind der Meinung, dass Vergiftung von Herrn Nawalny ein Wendepunkt für deutsch-russische Beziehungen ist. Demnach kann nicht mehr von einer besonderen Rolle Deutschlands als Vermittler oder sogenannter „Kreml-Versteher“ reden und die Beziehungen werden kühler werden. Teilen Sie solche Einschätzung? Gibt es Notwendigkeit für Deutschland seine Politik zur Russland zu ändern oder ändert der Fall Nawalnys diese Politik grundsätzlich nicht?

Jedenfalls ändert er nichts an der Geographie und deshalb auch nichts an unserem fundamentalen Interesse an einem guten oder zumindest einem vernünftigen Verhältnis zu Russland. Wir sind ein Land, das von Handel und wissenschaftlichem Austausch lebt. Schon deshalb wollen wir mit all unseren Nachbarn gute Beziehungen, die auf klaren Regeln und gegenseitigem Respekt aufbauen. Und dafür haben wir in den letzten Jahren auch einiges an Arbeit investiert, ich habe kaum einen Amtskollegen öfter getroffen als Sergej Lawrow. Unsere Gesellschaften sind eng verbunden, und es gibt einen regen Austausch der Zivilgesellschaft, von Studenten, Wissenschaftlern, Künstlern, der Wirtschaft. Aber es ist kein Geheimnis, dass unser zwischenstaatliches Verhältnis durch eine Reihe von Vorfällen – angefangen beim Bundestagshack bis hin zur Ermordung eines Georgiers in Berlin, die aktuell in Deutschland vor Gericht verhandelt wird – belastet wird.

Der versuchte Mord an Herrn Nawalny ist aus unserer Sicht dagegen keine bilaterale Frage zwischen Deutschland und Russland sondern betrifft die internationale Gemeinschaft als Ganzes. Wir sind zum Zeugen geworden, dass hier ein Mensch mit einem verbotenen Nervenkampfstoff vergiftet wurde, deshalb haben wir die internationale Organisation für das Verbot chemischer Waffen, die OVCW, als unabhängige internationale Instanz eingeschaltet. Dass mittlerweile fünf Labors unabhängig voneinander den gleichen Beweis geführt haben, verleiht unserer Forderung Nachdruck, dass Russland sich hier erklärt. Das ist bislang nicht erfolgt, die Fakten werden schlicht nicht zur Kenntnis genommen.

Die Wiedervereinigung Deutschlands und die Rolle der Sowjetunion und dann Russlands in diesem Prozess sprach man immer von einer Art Versöhnung zwischen beiden Ländern. Die bilateralen Beziehungen bzw wirtschaftliche Zusammenarbeit entwickelten sich dynamisch, bis es zum Konflikt in der Ukraine kam. Sehen Sie die Möglichkeit zu einer solchen Zusammenarbeit zurückzukehren und unter welchen Bedienungen kann das passieren?

Wir stehen offen zu unseren Werten: Rechtstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte und eine Welt in der Regeln gelten und nicht das Recht des Stärkeren. Wir sind überzeugt, dass das die beste Chance für ein friedliches Zusammenleben bietet.

Russland muss sich entscheiden, welches Verhältnis es zu uns und zu seinen westlichen Nachbarn in Europa haben will und welches Gesellschaftsmodell es für sich selbst will. Klar ist, dass Russland dieses Verhältnis durch sein eigenes Handeln bestimmen kann. Die Achtung und Einhaltung grundlegender internationaler Regeln, sei es in der Ukraine oder beim Chemiewaffenübereinkommen sind Voraussetzung dafür, dass wieder Vertrauen entstehen kann.

Es gibt klare Unterschiede, wie Deutschland und Russland auf den Fall Nawalnys reagierten. Berlin hat Russland dazu aufgerufen, die Vergiftung aufzuklären, und seine gemeinsame - mit europäischen Partnern abgestimmte Reaktion – vom Vorgehen der russischen Regierung abhängig gemacht. Russland sagt dazu, dass russische Behörden keinen Beweis der Vergiftung sehen, und fordert immer gemeinsame Ermittlung mit deutschen Behörden bzw. die Übergabe von Beweismaterialen. Es gibt Indizien, dass Russland auch die Ergebnisse der Überprüfung durch die OVCW nicht akzeptieren wird. Das sieht wie eine Sackgasse für eine vollständige Aufklärung des Falls aus. Verstehe ich das korrekt, dass wenn Russland die Ergebnisse von OVCW nicht akzeptieren wird, man mit der stärksten Reaktion der EU rechnen muss? Befürchten Sie nicht, dass ein solches Szenario nicht tatsächlich noch zu einer Eskalation in Beziehungen führen kann?

Wenn eine Tat wie der Mordanschlag auf Herrn Nawalny in Sibirien an einem russischen Staatsbürger stattfindet, dann muss und kann nur die russische Justiz ermitteln. Alle Spuren, Zeugen, Beweismittel die man braucht, um zu ermitteln, befinden sich in Russland, ebenso die ersten Blutproben. Erst zwei Tage nach der Tat ist Herr Nawalny ja zur medizinischen Behandlung nach Deutschland gekommen.

Aus unserer Sicht geht es hier um eine Auseinandersetzung mit den Fakten. Wir können jedenfalls bisher nicht erkennen, dass die russische Regierung sich öffentlich mit der Substanz des Falles auseinandersetzt. Diese ist, dass ein militärischer Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe in Russland zum Einsatz gekommen ist. Das ist ein schwerer Bruch des Chemiewaffenübereinkommens.

Hierzu fordern viele in der internationalen Gemeinschaft Aufklärung. Bisher hat Russland wenig unternommen, um diese Aufklärung zu leisten. Wenn dann auch noch ständig neue, teils abstruse Theorien in die Welt gesetzt werden bis hin zu der Behauptung, Herr Nawalny habe sich selbst vergiftet, wenn die Glaubwürdigkeit der OVCW als unabhängige Organisation in Zweifel gezogen wird, dann verstärkt das den Eindruck, dass man kein Interesse an ernsthafter Aufklärung hat.

Die Situation in Belarus bleibt auch ein Spannungspunkt der Beziehungen zwischen Russland und der EU. Deutschland erkennt Wahl Lukaschenkos nicht an und fordert Minsk auf, in Dialog mit Opposition zu treten, um eine Lösung zu finden. Seitens Russlands sieht es so aus, dass Moskau mit einer Verfassungsreform rechnet, deren Umsetzung aber gewisse Zeit braucht und im Laufe dieser Zeit bleibt aus Sicht Moskaus Lukaschenko der Präsident Weißrusslands. Sehen Sie hier Möglichkeiten einen Kompromiss zu finden z.B. eine schnelle Verfassungsreform und schnelle neue Wahlen?

Ein Kompromissvorschlag der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, deren Mitglied Russland ja ist, liegt nach wie vor auf dem Tisch, für einen friedlichen und inklusiven Dialog in Belarus. Ohne Einflussnahme von außen, aber mit ehrlichen Vermittlungsbemühungen, die zu fairen und freien Neuwahlen führen.

Herr Lukaschenko muss anerkennen, dass die Belarussinen und Belarussen ihn mehrheitlich nicht mehr als durch Wahlen legitimierten Präsidenten anerkennen. In einer Situation, in der er sich durch Gewalt, Repression und Wahlfälschung als Herrscher behaupten will, ist das Vertrauen in eine Reform, die allein auf seinem Wort beruht, sehr gering. Die Bereitschaft zu einem friedlichen Dialog ist die Voraussetzung, um aus dieser Sackgasse herauszukommen. Deshalb fordern wir als Europäische Union, dass das belarussische Volk eine faire Chance erhält, über seine eigene Zukunft zu entscheiden.

Den Zeitraum 1989/90 nennt man in Deutschland die „Wendezeit“. 30 Jahre später erlebt Deutschland und gesamte Welt eine Pandemie und Veränderungen in vielen Bereichen. Welche Lehre der Wende sind Ihrer Meinung nach heute am gefragtesten?

Es gibt aus meiner Sicht zwei Lehren: Zum einen, dass Geschichte nie statisch ist, es gibt immer Ereignisse, auf die wir reagieren müssen. Umbrüche, die zu einer Chance werden können, etwas neues zu gestalten. Dafür müssen wir offen sein.

Zum anderen: In Zeiten plötzlicher Veränderung ist Vertrauen zwischen Staaten noch wichtiger als ohnehin schon. Ohne die Verständigungsbereitschaft von Staatsmännern wie Mikhail Gorbatschow und George Bush hätten die Umbrüche von 1989 leicht ins Chaos statt zur friedlichen Wiedervereinigung führen können. In der Coronakrise haben wir es in Europa nach großen Anstrengungen geschafft, solidarisch und gemeinsam zu handeln, aber auf globaler Ebene hat wachsendes Misstrauen etwa zwischen China und den USA eine starke gemeinsame Antwort noch schwieriger gemacht. Ich bin überzeugt: das Virus werden wir nur gemeinsam besiegen oder gar nicht.

RIA Nowosti vom 13.10.2020

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